Artikel aus dem Extrablatt zur Stadtaufwertung in Winterthur (August 2023)
In Winterthur wird Vertreibung und Verdrängung «behutsame Entwicklung» genannt: neben der Sanierung von hunderten bisher günstiger «Stefanini-Wohnungen» investieren Pensionskassen und Versicherungen kräftig in die Neubauquartiere und treiben die Mietpreise hoch.
«Ist es eine Voraussetzung dafür eine lebendige Stadt zu sein, dass eine Stadt arm ist?» fragte die Zürcher SP-Regierungsrätin Jacqueline Fehr im Januar 2023 anlässlich einer Wahlveranstaltung. Gerichtet war die Frage an die Stiftungsratspräsidentin der Stiftung für Kunst, Kultur und Geschichte (SKKG), Bettina Stefanini und deren Antwort zynisch: «Nein, aber es hilft.» In einer armen Stadt bestünden «Lücken» und diese «Brachflächen in ärmeren Gebieten» würden den Leuten die Möglichkeit bieten «mit einer Grassroots-Bewegung aus irgendetwas herauszuwachsen». Eine romantische, verklärte Vorstellung von oben herab über «die Armen» und eine gekonnte Selbstinszenierung von Bettina Stefanini. Was sie als Besitzerin und Verwalterin von rund 1700 Wohnungen in der Stadt Winterthur plant ist aber zu Ungunsten der erwähnten armen Städter_innen. Die «Renovationsoffensive» der SKKG (siehe aufbau Nr. 106) ist in der Winterthurer Altstadt schon zu weiten Teilen umgesetzt, die Mieten in den sanierten Häusern sind bis auf wenige Fälle massiv gestiegen. Nun nimmt sich die Stiftung auch die zahlreichen Mehrfamilienhäuser in den Quartieren vor und setzt teilweise auf Abriss und Neubauten. So sollen die mehrheitlich von Sozialhilfebezüger_innen bewohnten und verlotterten Wohnblocks an der Zypressenstrasse in Wülflingen abgerissen und durch eine «nachhaltige, ökologische» Neubausiedlung ersetzt werden. Sämtlichen Mieter_innen wird gekündigt und anders als die SKKG das stets beteuert, kein vergleichbares Ersatzobjekt angeboten.
«Die wachsende Stadt gut gestalten»
Dass die SKKG gerade am Rand des Quartiers Wülflingen ein solches Projekt durchzieht steht ganz im Einklang mit den Stadtentwicklungszielen des Winterthurer Stadtrats. Im Leitbild «Räumliche Entwicklungsperspektiven Winterthur 2040», herausgegeben im Herbst 2021, werden hauptsächlich zwei Äste für den «Ausbau des urbanen Profils» der Stadt formuliert: Einerseits die Entwicklung bisheriger Industriebrachen wie auf dem ehemaligen Sulzer-Areal Oberwinterthur (heute Neuhegi-Grüze genannt) oder auf dem Rieter-Areal im Stadtteil Töss, anderseits die «behutsame Entwicklung» von «Wohngebieten mit Erneuerungspotential». Eine Karte verdeutlicht, welche Quartiere und Siedlungen damit gemeint sind: betroffen werden die Mieter_innen der bisher günstigen Wohnungen am Stadtrand in Wülflingen, Oberwinterthur und am Rosenberg sein, also da wo der 2018 verstorbene Winterthurer «Immobilienkönig» Bruno Stefanini besonders viele Wohnblocks baute und über Jahrzehnte verlottern liess.
Anders als in anderen Schweizer Grossstädten hat die Winterthurer Stadtregierung allerdings nur bescheidenen Einfluss auf den Wohnungsmarkt. Die Stadt besitzt gerade mal rund zwei Prozent der Mietwohnungen, in Basel ist der Anteil doppelt, in Zürich, Bern und Lausanne rund dreimal so hoch. Auch der Anteil an Genossenschaftswohnungen ist in Winterthur im Vergleich mit anderen Städten mit 14% eher gering. Grund dafür ist einerseits, dass der Wohnungsbau in der früheren Industriestadt stets vor allem den beiden grossen Industriekonzerne Sulzer und Rieter überlassen wurde. Anderseits hat die Stadt auch nach dem Zusammenbruch der Schwerindustrie den Wohnbau stets privaten Immobilienkonzernen überlassen und über Jahre eine Politik des aggressiven Standortmarketings betrieben, um sogenannt «gute Steuerzahler_innen» anzulocken. So wurden auf dem Sulzerareal Stadtmitte Lofts für Gutverdienende hochgezogen oder das Volkshaus beim Bahnhof geschliffen und durch die protzigen «Archhöfe» ersetzt.
Angelockt wurden dadurch zwar kaum richtig gute Steuerzahler_innen, wie die Stadt in einer Untersuchung einst selbst feststellte, dafür zahlreiche Pensionskassen, Versicherungen, Immobilienfonds und Bauriesen wie Implenia auf der Suche nach Finanzanlagen im Immobilienbereich.
Stabile Renditen durch hohe Mieten
Denn diese Konzerne haben mit der Verschärfung der Krise des Kapitalismus zunehmend Mühe, profitable Anlagemöglichkeiten zu finden. Sie stürzen sich deshalb bevorzugt auf die Immobilienbranche, die stabile und vergleichsweise hohe Renditen verspricht – mit durchschnittlich 6,24% Rendite zwischen 2009 und 2021 gehören Immobilien laut UBS sogar zu den rentabelsten Finanzanlagen. Mit diesen Investitionen und der Aufwertung ganzer Stadtteile wird die Situation dann zusätzlich angefeuert und die Mietpreise steigen weiter. Die Neubauten der grossen «Entwicklungsgebiete» in der Stadt Winterthur sind fast alle fest in der Hand von Pensionskassen und Versicherungen. In Neuhegi geben sich die Mobiliar, die Helvetia und die Allianz Versicherungen in den Überbauungen «Liz», «Max», «Sue&Til» und «Eulachhof» die Klinke in die Hand, die Nachbarn vom «Roy» und von «7 am Park» zahlen ihre teure Miete an Pensionskassen. Die Beamtenversicherungskasse des Kantons Zürich (BVK) hat bereits auf dem Areal der ehemaligen Seidenweberei und auf dem Archareal investiert und in Wülflingen mit dem «Gartenhof» nachgelegt. Auch in Töss dominieren bei den grossen Neubauten Pensionskassen und Versicherungen als Investoren. Die hohen Mieten in diesen Überbauungen erhöhen mittelfristig auch die Mieten in der Nachbarschaft – mit Verweis auf die «Quartierüblichkeit» der Mietzinsen oder mit weiteren «Aufwertungen». Der Druck auf die Mieter_innen steigt zudem mit der Erhöhung der Energiepreise, die von den Eigentümer_innen auf die Mietenden abgewälzt werden, der Anhebung des Referenzzinssatzes und den allgemein steigenden Lebenshaltungskosten. Da folgert der Winterthurer SP-Stadtrat Nicolas Galladé in einem kürzlich erschienenen Zeitungsinterview durchaus richtig, dass durch die aktuelle Entwicklung viele Normal- oder Wenigverdienende in den nächsten 10 Jahren aus der Stadt verdrängt werden würden. Er verschweigt aber, dass es mitunter seine Partei war und ist, die diese Entwicklung mit vorantreibt.