Im Stahlwerk in Gerlafingen bei Solothurn geht es momentan nicht nur bei der Stahlproduktion heiss zu und her: Die Ankündigung, dass erneut Stellen gestrichen werden sollen, trommelt am Samstag, dem 9. November, 1000 Menschen zum Protest vor das Werk.
(agkk) Bereits im Frühling hat die italienische Inhaberfirma Beltrame 60 Stellen gekürzt und eine Produktionsstrasse geschlossen. Anfang Oktober machte sie bekannt, dass sie 120 Arbeitsplätze streichen will. Dies wurde auf Druck aus der Bevölkerung hin inzwischen wieder zurückgenommen, stattdessen wird auf Kurzarbeit umgestellt. Doch das Stahlwerk schreibt rote Zahlen, die Zukunft ist ungewiss. Viele spekulieren, dass es innerhalb der nächsten fünf Jahre ganz geschlossen wird. Auch das andere Stahlwerk in der Schweiz, Steeltec bei Luzern Emmenbrücke, macht Verluste und hat Stellenabbau angekündigt.
20. Jahrhundert – Vom Massenstreik zum Arbeitsfrieden
Dabei spielt das Stahlwerk in Gerlafingen eine bedeutende Rolle in der Geschichte der Industrialisierung der Schweiz: Seinen Anfang nahm es 1803 in den Eisenschmieden und Bergwerken des Solothurner Patriziers Von Roll. Schnell wuchs Von Roll zu einem Konzern an, der von Schachtdeckeln über Hydranten, Turbinen, Seilbahnen und Maschinen alles Mögliche produzierte und damit nicht nur die Schweiz, sondern auch das Ausland belieferte. Das Stahlwerk in Gerlafingen war dabei einer von vielen Standorten des Von Roll-Konzerns in der Schweiz.
Im Jahr 1920, zwei Jahre nach dem Landesstreik, reagierten die Arbeiter_innen des Stahlwerks auf die Inflation und forderten mit einem Streik faire Löhne ein. Der Streik dauerte vom 8. März bis zum 9. April und zählte von einer Belegschaft von insgesamt 1700 Arbeiter_innen stattliche 1200 Streikende. Mitgetragen wurde der Arbeitskampf von der kämpferischen lokalen Sektion der SMUV, der damaligen Gewerkschaft für Industrie, Gewerbe und Dienstleistungen. Vermutlich wäre der Streik noch weiter eskaliert, hätte nicht der Zentralsekretär der SMUV, Konrad Ilg, ohne Rücksprache mit der lokalen Sektion und den Arbeiter_innen Verhandlungen mit dem Von Roll-Direktor aufgenommen. Als Vermittler bei den Gesprächen fungierte der damalige FDP-Bundesrat Schulthess. Diese Beteiligung der Bundesebene hatte Strahlkraft und bewirkte, dass die Gewerkschaften allgemein zunehmend als Verhandlungspartner wahrgenommen wurden. Es wurde jedoch klar, dass die wirtschaftlich und politisch stärkeren Arbeitgeber den Rahmen definierten und somit den Inhalt auch massgeblich beeinflussen konnten. Später, im Jahr 1937, wurde schliesslich zwischen demselben Direktor der Von Roll und der SMUV ein längerfristiges Friedensabkommen getroffen, das den Grundstein für den Schweizer Arbeitsfrieden legte.
In den 90er-Jahren «räbelte» es dann in der Stahlindustrie, die Nachfrage begann zu sinken, die Werke kamen in die Krise. Von Roll wollte Gerlafingen loswerden, die Banken drängten Von Moos (das Unternehmen, welchem das Stahlwerk in Emmenbrücke gehörte) und Von Roll zum Zusammenschluss. Nachdem das Werk 1996 von der Von Moos Holding AG übernommen wurde, schlossen sich die ehemalige Von Roll und Von Moos zur Swiss Steel zusammen. Diese verkaufte die Stahl Gerlafingen dann 2010 vollständig an die italienische AFV Beltrame.
Die Marktlogik lässt das Stahlwerk im Stich
Stahl ist ein essenzieller Baustoff für die Gesellschaft und wird dies auch weiterhin bleiben. Er kann beinahe ohne Qualitätsverlust immer wieder eingeschmolzen und neu geformt werden und wird auch in einer dekarbonisierten Welt noch verschiedene Anwendungszwecke haben: Aus ihm entstehen die Wagenkästen für Trams, die Schienen für Züge, die Füsse von Windrädern, Speicher von Wärmepumpen und vieles mehr.
Stahl kann in zwei Arten von Anlagen hergestellt werden: in einem Hochofen aus Eisenerz und Koks (fast reiner Kohlenstoff, der aus Kohle gewonnen wird) oder in einem Elektroofen aus wiedergewonnenem (recyceltem) Stahl. Die Stahlproduktion in Hochöfen ist mit 2 Tonnen CO2 pro gewonnener Tonne Stahl deutlich klimaschädlicher als die Erzeugung durch wiederverwendeten Stahl, wo pro Tonne Stahl nur noch 368 kg CO2 ausgestossen werden. Um die enorme Hitze in den Schmelzöfen von 1600°C zu erzeugen, wird der Elektrolichtbogenofen in Gerlafingen mit Strom und Erdgas betrieben. Die ökologische Bilanz des Stahlwerks könnte noch verbessert werden, indem der Strom für den Ofen nur aus erneuerbaren Energiequellen bezogen wird.
Nun macht das Stahlwerk in Gerlafingen unter Beltrame jedoch Verluste. Die weltweite Überproduktion an Stahl macht Gerlafingen, wo primär Baustahl aus recyceltem Altmetall produziert wird, zu schaffen. Auch die hohen Strompreise, an denen sich die Energiekonzerne eine goldene Nase verdienen, sind ein Faktor. Die Baufirmen in der Schweiz bevorzugen oftmals den klimaschädlicheren Stahl aus dem Ausland, weil er billiger zu bekommen ist. Im National- und im Ständerat werden zurzeit verschiedene Motionen zur Rettung der beiden Schweizer Stahlwerke diskutiert, ein konkreter Vorschlag ist die Unterstützung durch Senkung des Strompreises über den Netztarif. Die UNIA hingegen fordert vom Bund Massnahmen zur Verwendung von Recycling-Stahl für das öffentliche Beschaffungswesen, um neue Absatzmöglichkeiten zu schaffen. Es ist allerdings klar, dass mit diesen Ansätzen nur ein Teil der Probleme der Stahlwerke gelöst werden kann.
Der Klimastreik, der ebenfalls an den Protesten teilnimmt und Solidarität mit den Arbeiter_innen bekundigt, geht einen Schritt weiter und fordert, dass Stahl Gerlafingen der Marktlogik entzogen wird. Der Staat solle es zum symbolischen Preis von einem Franken von Beltrame übernehmen und unter demokratische Kontrolle bringen, sprich von den Arbeiter_innen in Zusammenarbeit mit Expert_innen und Klimawissenschaftler_innen geführt werden.
Mit dem Bagger vor den Bundesplatz
Die Stimmung unter den Arbeiter_innen ist ernst. Es wird viel von Familie gesprochen, einige von ihnen sind bereits in der dritten Generation im Stahlwerk von Gerlafingen beschäftigt. Es wird auf die Bedeutung des Stahlwerks für die Gegend hingewiesen, aber auch viel auf die ökologischen Aspekte. Das Stahlwerk in Gerlafingen produziert vergleichsweise grünen Stahl und trägt zum metallischen Kreislauf bei. Das betonen auch die Arbeiter_innen immer wieder: «Ich weiss nicht, wie sich das der Bund vorstellt, dass wir dann unser Altmetall im Ausland recyceln. Das gibt nur wieder mehr Verkehr», erklärt Fehmi, ein Altmetall-Sortierer im Werk. Es geht bei Gerlafingen um Vieles: Um Arbeitsplätze, um den Kampf gegen die Deindustrialisierung, um den sozial-ökologischen Umbau.
Beinahe die gesamte Belegschaft war im Oktober auf dem Bundesplatz gestanden und im November vor dem Werk, die Hälfte ist Mitglied bei der UNIA. Den meisten ist klar: Weder der italienische Inhaber noch die Schweizer Politik interessieren sich genug für das Werk. Sie gehen nicht davon aus, dass die zwei friedlichen Kundgebungen viel bewirken werden, dafür lässt sich aus dem Stahlwerk nicht genug Profit schlagen. Sie prangern an, dass den Banken vom Bund sofort unter die Arme gegriffen wurde, während das Stahlwerk nicht wichtig genug ist.
Die Solidarität mit den Arbeiter_innen aus der Bevölkerung ist jedoch gross und am Protest am Samstagmorgen auch deutlich spürbar: Ein Arbeiter aus dem Stahlwerk erzählt, man habe eine Grussbotschaft von der besetzten ex-GKN-Fabrik in Italien erhalten, und die Äpfel, die an der Kundgebung verteilt werden, wurden solidarisch von den Bäuer_innen der umliegenden Dörfer gespendet. Es sind solidarische Holzbauer_innen vor Ort, der Klimastreik, die BFS und der Aufbau bekundigen ebenfalls mit ihrer Teilnahme ihre Solidarität.
Die Vorschläge, die in der institutionellen Politik diskutiert werden, sind reformistische, kurzfristige Lösungen. Eine befristete Senkung der Netztarifangaben für das Werk wird weder dafür sorgen, dass die Zukunft der Arbeitsplätze längerfristig gesichert ist, noch, dass die Stahlproduktion in der Schweiz nachhaltiger wird. Die Kundgebungen haben starke Zeichen gesetzt und den breiten Rückhalt für das Werk verdeutlicht. Jetzt ist es aber an der Zeit, radikalere Massnahmen zu ergreifen. Ein Beispiel dafür liefert die bereits erwähnte ex-GKN-Fabrik bei Florenz, wo ehemals Teile für die Autoindustrie hergestellt wurden. Als 2021 die Nachricht kam, dass die Produktion verlagert werden sollte, besetzten Arbeiter_innen die Fabrik und stellten unter ihrer Führung nun auf die Produktion von Lastenvelos um. Eine andere Erfolgsgeschichte bieten die Streiks der 430 Arbeiter_innen der SBB-Werkstätten (Officine) bei Bellinzona im Jahr 2008, die auf die Ankündigung der Schliessung folgten. Oder in Fehmis Worten: «Dann müssen wir eben mit dem Bagger auf dem Bundesplatz einfahren und sagen: Hey, jetzt ist fertig!»