Ein Reisebericht aus Bakur, Nordkurdistan

Die Landschaft in Bakur, im Norden Kurdistans, wirkt auf den ersten Blick rauh, wild, fast unberührt. Die kargen Gebirgszüge mit den zackigen Bergspitzen, die Hügellandschaften mit Erde in verschiedenen Rot- und Grüntönen, die Flüsse, die sich zwischendurch schlängeln. Doch die Idylle täuscht: Der kurdische Teil im Südosten des türkischen Staatsgebiets wird seit dem Rückzug der Guerilla-Kämpfer_innen vom Militär besetzt und die Natur systematisch zerstört und ausgebeutet.

(agkk) Begonnen haben wir unsere Reise als Delegation mit Fokus auf Ökologie im letzten Frühling in Amed (auf türkisch “Diyarbakir”). Die Stadt, die als Hauptstadt Kurdistans gilt, kam im Städtekrieg 2015-2016 heftig unter türkischen Beschuss. Dabei wurde der Grossteil des historischen Stadtteils Sur, welchen die PKK im August 2015 als selbstverwaltete Zone deklariert hatte, durch Bombenangriffe zerstört. Nach Jahren der Zwangsverwaltung sind momentan wieder zwei demokratisch gewählte Politiker_innen der DEM-Partei (Nachfolgepartei der HDP) im Amt der Co-Bürgermeister_innen. Als wir die Bürgermeisterin Serra Bucak zum Abendessen treffen, erzählt sie uns, dass sie damit rechne, jederzeit verhaftet und abgesetzt zu werden. In Amed stechen uns ausserdem die vielen eingezäunten Neubau-Siedlungen ins Auge. Serra erklärt, dass sehr viel gebaut werde, aber dies auch einer Gentrifzierungspolitik dienen würde: Die Bevölkerung von Amed werde vertrieben, denn sie könnten sich die teuren neuen Wohnungen nicht mehr leisten. Die Einzäunung der Siedlungen im Stil von “Gated Communities” verändere das Gemeinschaftsgefühl in den Nachbarschaften. Doch die Kontrolle darüber, was in Amed gebaut wird, wurde Serra und dem Co-Bürgermeister von Ankara aus entzogen.

Etwas ausserhalb von Amed besuchen wir die Kooperative Ecotovia, die mit einem Stück besetzten Land eine Samenbibliothek und eine agrarökologische Schule aufgebaut hat. Durch die Zerstörung von landwirtschaftlichen Flächen durch den Staat wurden die Menschen immer abhängiger von Importen. Auch die Konzerne mit Monopol auf Samen, aus denen nicht weiter vermehrt werden kann, tragen zur Abhängigkeit und finanziellen Unsicherheit der lokalen Bevölkerung bei. Mit der eigenen Produktion und Verteilung an die Bevölkerung von Samen von einheimischen Gemüsesorten und Heilkräutern wirken sie dem entgegen und fördern die Fähigkeit zur Selbstversorgung. Die Schule von Ecotovia ist für alle Kinder zugänglich und bringt ihnen Grundlagen der ökologischen Landwirtschaft bei.

Unser Weg führt unser weiter nach Dersim, einer Stadt, in der der Widerstand der Kurd_innen, Alevit_innen und Zaza deutlich spürbar ist. Tafeln in den Strassen erinnern an das Massaker von 1938, mit dem der türkische Staat die Aufstände gegen die Assimilationspolitik und Unterdrückung beantwortete und kurzerhand 40’000 Menschen tötete. Und bereits vor den Zeiten der heutigen Türkei war Dersim durch seine Lage in den Bergen für das osmanische Reich ein schwer zu kontrollierender Ort. Besonders stark äussert sich die kämpferische Atmosphäre an Newroz, dem kurdischen Neujahrsfest. Der Festplatz ist umzingelt von Zivilpolizist_innen mit Kameras, auf den Dächern stehen Soldaten mit Gewehren in den Händen. Doch die Bevölkerung lässt sich von dieser Machtshow nicht beirren und gemeinsam werden in den traditionellen Gewändern, wie sie auch die Guerilla trägt, kurdische Tänze getanzt.

Staudämme – nachhaltige Energiegewinnung oder Kriegstaktik?

In der Umgebung von Dersim gibt es verschiedene Staudamm-Projekte des türkischen Faschismus. Auf den ersten Blick mag das nicht schlimm klingen, vielleicht sogar nach Förderung von erneuerbaren Energien und Klimamassnahmen. Doch weit gefehlt: Die Staudämme, von denen die türkische Regierung in den letzten 30 Jahren 22 Stück in Nordkurdistan gebaut hat, dienen der Minderung der Bewegungsfreiheit der Guerilla, der Evakuierung von kurdischen Dörfern und der langfristigen Veränderung der Ökologie im Gebiet. Landwirtschaftliche Flächen werden regelmässig geschwemmt und damit unbenutzbar gemacht und das Gebiet rund im den Staudamm als Militärsperrzone deklariert.

Ein weiteres eindrückliches Beispiel ist Hasankeyf, eines der ältesten dauerhaft besiedelten Gebiete auf der Welt, dessen Geschichte mit dem Bau des Ilisu-Staudamms absichtlich zubetoniert und versenkt wurde. 100’000 Menschen, die dort wohnhaft waren, verloren bei der Flutung im Jahr 2020 ihr Zuhause. Inzwischen prangt auf dem Hügel mit wenigen noch herausstehenden Felshöhlen und alten Steinhäusern ein riesiger türkischer Halbmond, und wo einst die Menschen und Tiere von Hasankeyf lebten, fahren nun Boote für Tourist_innen ein paar hundert Meter weiter oben über die Wasseroberfläche.

Doch nicht nur die regionalen Folgen der Staudämme zeugen davon, dass sie Teil einer Kriegstaktik sind: Der Atatürk-Staudamm, der den Euphrat staut, ist einer der ersten und grössten Dämme des Südostanatolien-Projekts. Er erlaubt der Türkei, die Wasserzufuhr nach Rojava zu kontrollieren. Auch der Tigris wird in Cizre an der Grenze zu Rojava, wo wir unseren nächsten Halt machen, gestaut. Für Rojava bedeutet dies Wasserknappheit, ihnen fehlt an Trinkwasser, Wasser zur Bewässerung und Wasser für Energiegewinnung.

Die Entwaldung der ehemaligen Guerilla-Hochburgen

Von Cizre geht es weiter nach Şirnex, das zwischen dem Gabar- und dem Cudi-Gebirge, ehemaligen Hochburgen der kurdischen Guerilla, liegt. Von zwei älteren Hevals (“Freunde, Genossen”) werden wir zu einer Seitenstrasse etwas ausserhalb des Städtchens geführt, wo Holz aus der Gegend zwischengelagert wird. Dieses Holz stammt grösstenteils von der kurdischen Eiche, einer früher in der Region sehr häufigen Baumart. Doch seit den 90ern verbrennt das türkische Militär massenhaft Wälder, und der Regierung nahestehende Firmen betreiben weitflächige Waldabholzung in ganz Bakur. Erst auf der Fahrt vom kurdischem Gebiet zurück in die türkischen Regionen wird uns das Ausmass der Entwaldung schmerzhaft bewusst: Plötzlich sind sämtliche Hügel wieder bewaldet, eine merkwürdige Ansicht für unsere Augen, die sich in Bakur an die kahlen und rauhen Felslandschaften gewöhnt haben.

Diese Zerstörung der Wälder dient primär dem Zweck, das Gebiet für die türkischen Militärposten übersichtlich zu machen und die Guerilla in ihrer Bewegungsfreiheit einzuschränken. So wurden zeitgleich mit den Waldbränden Militärstützpunkte auf jeder Hügelspitze, mit wenigen Kilometern Distanz zu einander, errichtet.

Neben der Verdrängung der Guerilla verfolgt das faschistische Regime mit der Entwaldungspolitik auch eine langfristige Strategie der ökologischen Kriegsführung und der Unbewohnbarmachung der Gegend, mit dem Ziel der Vertreibung und Vernichtung der kurdischen Bevölkerung. Wenn der Wald fehlt, verlieren die Berge den Halt und die Erosion tut ihr Übriges. Das Habitat der Flora und Fauna, die für die fruchtbare Erde zentral sind, verändert sich.

Mit Minenprojekte aus Vertreibung Profit machen

Doch es geht noch weiter: Der nächste Schritt der türkischen Vertreibungspolitik sind die Minenprojekte. Es handelt sich hierbei um Rohstoffabbau von Kohle, Zink, Sand, Phosphor und Gold durch regierungsnahe Firmen. Die Naturzerstörung durch diese Minenprojekte, die oftmals ohne jegliche Umweltregelungen oder -Kontrollen betrieben werden, ist immens. Die Hevals führen uns zu einem Fluss unterhalb einer Kohlemine in der Nähe von Şirnex. Der Fluss trug früher das Wort “Fisch” im Namen, weil er so reichhaltig an Leben war. Bei unserem Besuch ist er dunkel, beinahe schwarz, und stinkt grässlich. Die Verschmutzung durch die Mine hat die Biodiversität im Fluss zerstört und somit auch die Lebensgrundlage für die Menschen.

Auch für die Minenprojekte werden oft Militärsperrzonen ausgerufen. Der Boden wird entweder an internationale Firmen oder AKP-nahe Betreiber vergeben. Die Bewilligung für den Rohstoffabbau ist dann auch an eine Bedingung geknüpft: Man muss für den Bau eines Militärstützpunktes aufkommen.

Der Kampf um die Natur ist zentral für eine revolutionäre Perspektive

Unsere Reise durch Bakur hat eindrücklich gezeigt, an wie vielen Fronten der Krieg des türkischen Staates gegen die kurdische Bevölkerung stattfindet und dass Naturzerstörung spezifisch als Kriegsmittel mit langfristigen Folgen eingesetzt wird. Der Widerstand dagegen und die Organisierung für den Erhalt einer intakten Natur ist zentral für den revolutionären Kampf. Die Menschen in Bakur tun dies auf verschiedenen Ebenen: Sie demonstrieren gegen die Staudamm-Projekte, führen Aktionen gegen den Minenbau durch, gehen juristisch gegen die Infrastrukturprojekte vor und leisten mit Kollektiven wie dem mit der Samenbibliothek wichtige Aufbauarbeit.

Führen wir auch hier den Kampf für die Natur, für das Leben: Als Kommunist_innen wollen wir unsere Entfremdung von der Natur und voneinander bekämpfen und aus internationalen Kämpfen wie dem der kurdischen Genoss_innen Kraft und Inspiration schöpfen.

aus: aufbau 122

Weitere Artikel der Delegation: Teil 1: https://sozialismus.ch/international/2025/bericht-der-oekologiedelegation-bakur-nordkurdistan-teil-1-kriegstaktiken-und-oekologische-zerstoerung/ Teil 2: https://sozialismus.ch/international/2025/bericht-der-oekologiedelegation-bakur-nordkurdistan-teil-2-oekologische-kriegsfuehrung-und-gesellschaftliche-folgen/