EU militarisiert Flüchtlingsabwehr

Bei der Erstürmung eines Flüchtlingsschiffs durch die griechische Küstenwache wurde am Wochenende ein 17jähriger erschossen. An der Aktion waren auch Beamte der EU-Grenzschutzbehörde Frontex beteiligt. Ziel des Einsatzes waren »mutmaßliche Schleuser« an Bord. Drei Personen wurden festgenommen.

Der »tragische Todesfall«, wie es nun bei Politikern und Medien heißt, hat einen politischen Hintergrund und fällt in die Verantwortung der EU, also auch der deutschen Regierung. Vorgänge wie dieser könnten sich in den kommenden Wochen wiederholen. Denn die Staaten der Europäischen Union wollen im Mittelmeer demnächst die sogenannte zweite Phase ihrer Militärmission EU Navfor Med starten.

Offiziell erklärtes strategisches Ziel der Mission ist die »Zerschlagung der Geschäftsgrundlage des Menschenschmuggels«. Die erste Phase begann bereits im Juni. Sie soll der »Aufklärung« und Informationsbeschaffung über die »Strukturen der kriminellen Netzwerke« dienen. Dies geschieht u. a. mit Hilfe von Satelliten und Spionageschiffen. Die deutsche Kriegsmarine ist mit einer Fregatte und einem Versorgungsschiff beteiligt.

In der zweiten Phase sollen Schiffe und Boote, in denen sich Flüchtlinge befinden, auf hoher See, also in internationalen Gewässern, gestürmt werden, um die Fahrzeuge zu beschlagnahmen und vielleicht an Bord befindliche »Schleuser« festzunehmen. Das Risiko von Zwischenfällen, bei denen Flüchtlinge getötet oder verletzt werden, wird sogar von EU-Stellen als hoch eingeschätzt. In einer dritten Phase will die EU mit militärischen und polizeilichen Mitteln gegen Schiffe, Hafenanlagen, Treibstofflager und andere Objekte vorgehen, die dem »Menschenschmuggel« dienen könnten. Hauptsächlich in den Territorialgewässern und an der Küste Libyens. Praktisch bedeutet das Kriegführung. Dazu würde die EU nach eigener Rechtseinschätzung entweder eine »Einladung« durch die international anerkannte libysche Regierung – die aber nur einen geringen Teil des Landes kontrolliert – oder ein Mandat des UN-Sicherheitsrats benötigen. Beides liegt bisher nicht vor und ist auch nicht in Sicht.

Aber die zweite Phase soll spätestens Anfang Oktober beginnen. Das EU-Navfor-Kommando hat der EU in der vergangenen Woche eine entsprechende Empfehlung gegeben. Eine Entscheidung könnte schon während der Versammlung der europäischen Verteidigungsminister fallen, die am Mittwoch und Donnerstag in Luxemburg stattfindet. Die NATO hat militärische Unterstützung zugesagt. Ihr Generalsekretär Jens Stoltenberg wird an dem Treffen teilnehmen. Nachdem die Sache entschieden ist, wird die Merkel-Regierung den Bundestag befragen. Für den Beginn der ersten Phase im Juni war die Billigung des Parlaments nach Ansicht der Bundesregierung nicht erforderlich gewesen. Mit der tödlich verlaufenen Polizeiaktion hat die zweite Phase zwar nicht formal, aber de facto jetzt schon begonnen. Ohne die Diskussion und Abstimmung im deutschen Bundestag abzuwarten.

Knut Mellenthin / Junge Welt vom 31. August 2015