
Wir haben den iranischen Genossen Foad aus Berlin getroffen und um eine Einschätzung der Lage im Iran nach den amerikanischen und israelischen Angriffen gebeten.
Beginnen wir mit der Ausgangslage.
Ich will nicht die lange Geschichte des Nahen Ostens der letzten 30 Jahren erläutern, aber wir müssen kurz auf den 7. Oktober eingehen. Ich glaube, nach dem 7. Oktober beginnt eine qualitativ neue Phase in der Umgestaltung und Neuaufteilung. Teil davon ist die ethnische Säuberung, die sich gerade in Palästina vollzieht. Der Sturz des Diktators Assad in Syrien und natürlich die Abraham-Abkommen, die eine Normalisierung arabischer Staaten mit Israel bedeuten und wieder sehr aktiv verhandelt werden, gehören auch dazu sowie die Entstehung und Sicherung verschiedener Handelskorridore zwischen Ost und West.
In den letzten Jahren hat sich das chinesische Modell des Imperialismus vermehrt als rivalisierende Alternative zum US-geführten Imperialismus präsentiert. Der Nahe Osten ist also aktuell ein Schlachtfeld, in dem ein absterbender US-geführter Imperialismus versucht seine Hegemonie – die er nicht mehr mit politischen und ökonomischen Mitteln durchsetzen kann – mit militärischen Mitteln zu erzwingen. Die Dominanz über die Region und die Einhegung des ökonomischen Hauptfeinds China sind also die Hauptziele. Natürlich gibt es zusätzliche subimperiale Ambitionen der regionalen Akteure: des Irans, der Türkei, Saudi-Arabiens, Israels etc. Auch sie versuchen ihre Interessen durchzusetzen. Aber ich glaube, das Zentrale ist schon das grössere geopolitische Game.
In dem Kontext steht der Iran halt im Weg – ganz simpel und einfach gesagt. Sowohl die Zerschlagung der Hisbollah als auch der Fall von Assad, also das Zurückdrängen der so genannten Achse des Widerstands in die letzten eineinhalb Jahren, waren Vorboten davon, dass sich die Schlinge um den Iran enger zieht. Und das zeigt, dass es um viel mehr geht als um Nuklearprogramme und Atombomben. Letztere sind eine Show, die man für das Publikum im Westen abzieht, es ist eigentlich nur eine Neuauflage von 2003 und den angeblichen Massenvernichtungswaffen von Saddam Hussein.
Was haben sich die USA von einem solchen Militärschlag erhofft?
Sicher ging es ihnen darum, die Islamischen Republik politisch und militärisch zu schwächen, was ihnen bis bis zu einem gewissen Grad gelungen ist. Zu weiteren Szenarien herrscht grosse Uneinigkeit im westlichen Block. Der «Regime Change», den sich monarchistische und andere rückständige Kräfte erhofft hatten, ist nicht machbar, ohne komplett die Kontrolle zu verlieren. Die Balkanisierung, die Israel gerne in Kauf nehmen würden oder sogar forciert, birgt das gleiche Risiko der Unkontrollierbarkeit. Und darum waren die USA auch sehr unsicher, ob sie auf diese Karte setzen sollen oder ob es nicht doch sinnvoller ist, mit den Machthabern im Iran einen Deal zu finden. Vielleicht kann dieser Krieg als eine Art «Verprügelaktion» eingeordnet werden, um zu testen, ob man die Islamische Republik in den Griff bekommt und die eigenen Interessen so durchsetzen kann.
Dagegen gibt es halt am Ende nur eine Möglichkeit, nur einen einen Ausweg: Eine selbstbestimmte Bewegung der Klasse und der Völker im Iran gegen imperialistische Aggression, gegen die Islamische Republik und für einen Frieden und ein gemeinsames Zusammenleben im Nahen Osten.
Wie hat die islamische Republik auf die Angriffe reagiert?
Die Islamische Republik hat die Angewohnheit, sich für ihre Niederlagen an der eigenen Bevölkerung zu rächen. Und das tut sie gerade. Es gibt massenhaft willkürliche Festnahmen, hauptsächlich basieren auf der konstruierten Anschuldigung, die Verhafteten seien israelische Agenten. Oder die Verschärfung der Haftbedingungen in den Gefängnissen. Es sind Aktivist_innen und Intellektuelle, die aktuell unter Generalverdacht stehen, oder ganze Volksgruppen (wie die Kurd_innen und die Belutsch_innen).
Viele militärische Schläge wurden mit Hilfe von israelischen Agenten im Inland ausgeführt, was die innere Zersetzung und Verrottung des Systems zeigt. Prominenteste Beispiele sind die vermeintlich gezielten Drohnenangriffe auf Infrastruktur, Nuklearwissenschaftler_innen und auf Armeegeneräle. Die Islamische Republik hat starke Verluste in ihrem Sicherheitsapparat erlitten, prominente Mitglieder der Revolutionsgarde wurden getötet.
Es ist ein durch und durch verkommenes System aus Korruption, Unterdrückung und Elend, die halt zum verzweifelten Alltag gehören. Dieses System wird mittlerweile nicht nur von dem Grossteil der Bevölkerung abgelehnt, sondern ist auch ideologisch bankrott. Darum ist auch die Repression nach innen umso härter und macht uns seit den ersten Tagen des Krieges am meisten Sorgen. Im Kriegszustand gibt es immer den Versuch, jegliche Opposition zu ersticken und eine Homogenisierung des Volkes hinter die politisch-militärischen Führung zu erzwingen.
Und ich glaube, die grösste Katastrophe, neben den willkürlichen Festnahmen und den dutzenden Hinrichtungen, die sich gerade vollzieht, ist die Massendeportation der Afghan_innen im Iran. Die Lage in den Abschiebelagern ist katastrophal, 45°C und teilweise ohne Brot und Wasser. Es gibt Videos, die zeigen, wie die arme belutschische Dorfbevölkerung an den Toren dieser Camps versucht, mit Brot und Wasserflaschen auszuhelfen. Die Solidarität zwischen den Ärmsten auf der einen Seite, auf der anderen Seite Chauvinismus und Faschismus, der hier ausartet und von einem Teil der Bevölkerung bejubelt wird, das lässt einen erschauern.
Welche Tendenzen sind innerhalb der Bevölkerung auszumachen?
In der Bevölkerung können wir zwischen drei Gruppen unterscheiden. Die ersten Gruppe sind diejenigen, die sich auf der Seite der Regierung schlagen. Jene, die die islamische Republik wirklich unterstützen, aber auch ein Teil des Volkes, der die Islamische Republik ablehnt, sich aber aus einem patriotischen Impuls der Vaterlandsverteidigung hinter die Regierung und die Armee stellt.
Eine zweite Gruppe sympathisiert mit den israelischen Angriffen, die haben wohl die Illusion einer Befreiung von aussen. Zentral dabei ist sicher der Einfluss jahrelanger ausländischer Propaganda und Einflussnahme, die uns das Bild vermittelt: «wenn jetzt die USA oder Israel angreifen und die Islamische Republik entmachten, dann werden wir so wohlhabend wie Schweden oder Norwegen». Dass die Lage nach einem solchen Krieg eher der Situation in Libyen, Syrien oder Irak ähnlich sein würde, das haben sie nicht vor Augen. Und gleichzeitig nährt sich diese Position auch aus einem nachvollziehbaren und verzweifelten Hass auf die Islamische Republik, der aber politisch fehlgeleitet wird und eine sehr destruktive und reaktionäre Form annimmt. Ich glaube, es war gerade für diese Menschen ein Weckruf, als sie die Realität des Krieges und die zivilen Opfer gesehen haben. Sie haben realisiert, dass die israelischen Luftschläge nicht nur irgendwelche Militärs treffen, sondern ganze Hochhäuser dem Erdboden gleichmachen. In 12 Tagen sind bei uns über 900 Menschen durch israelische Bomben ermordet worden, mehrere Tausend sind verletzt, der absolute Grossteil davon sind Zivilist_innen. Und wenn wir heute über diese hunderten zivilen Opfer sprechen ist es unmöglich im gleichen Atemzug, über den nicht enden wollenden Genozid am palästinensischen Volk in Gaza zu schweigen.
Die dritte – und meiner Meinung nach grösste – Gruppe, ist die Bevölkerung, die einfach keinen Bock hat auf diesen Krieg. Sie sind in der Islamischen Republik gefangen zwischen Armut, Korruption und Perspektivlosigkeit und jetzt müssen sie sich auch noch mit Bomben auf ihren Städten rumschlagen. Auf die schon bestehenden Existenzängste wird noch eine neue Existenzangst obendrauf gegeben, eine weitere Zumutung in einem eh schon harten Leben. Sie sehen die Islamische Republik und Israel als die zwei Seiten der gleichen Medaille. In einem Gespräch brachte es jemand mit einem zynischen Lächeln so auf den Punkt: «Guck mal, jetzt wollen uns die einen Kindermörder von den anderen Kindermördern befreien». Diese Gruppe hat ihre eigenen Interessen und Vorstellungen: Sie wollen leben, selbstbestimmt in Freiheit und mit Würde.
Wie artikulieren sich diese Interessen in der aktuellen Kriegssituation? Gibt es Widerstand?
Es gibt politischen Stellungnahmen. Die Lehrergewerkschaft und Schriftstellerverband haben eine Erklärung verfasst, Stimmen aus den Busfahrergewerkschaften waren zu hören, ebenso von vielen verschiedenen Berufsverbänden und kleinere linke Parteien, die sich gegen den Krieg, aber auch explizit gegen die israelische Aggression sowie gegen die Islamische Republik gestellt haben. Verbunden wurden diese Statements oft mit dem Aufruf, dass sich die Bevölkerung selber organisieren soll, Komitees gründen soll, um die Alltagsversorgung aufrechtzuerhalten und um medizinische Hilfe zu organisieren. Diese Unterstützung kann zu einer wichtigen Grundlage werden, um später Selbstverwaltungsstrukturen zu schaffen.
Ich will ein paar Zeilen von der Stellungnahme des Schriftstellerverbands zitieren, weil ich die für sehr zutreffend halte: «Der Krieg eines faschistischen Regimes, das auf Besatzung und Völkermord gründet, gegen eine Herrschaft, die sich im Blut von Gegner_innen und Freiheitskämpfer_innen wäscht, zerstört nicht nur Leben. Es bringt auch den jahrzehntelangen Kampf für Freiheit und Gleichheit zum Stillstand und wirft ihn vielleicht auch zurück. Wir fürchten, dass die Errungenschaften der Freiheitsbewegung von 2022, die selbst aus früheren Aufständen hervorgingen, in dieser Invasion zerrieben werden können. Auf dem verbrannten Boden danach könnte extremer Nationalismus, religiöser Fanatismus und neuer Faschismus spriessen.»
Die politischen Gefangenen haben sich sehr früh und klar geäussert. Kannst du dazu noch was sagen?
Israel stilisiert sich im Westen ja sehr gerne als Verteidiger der Menschenrechte und lässt IDF-Soldat_innen in TikTok Videos tanzen. Oder dann heisst es «Jin-Jiyan-Azadi» aus dem imperialistischen Chor und man bejubelt und vereinnahmt das. Unser «Jin-Jiyan-Azadi» sitzt in unseren Knästen, leistet Widerstand und äussert sich klar gegen jegliche imperialistische Vereinnahmung, wie das Statement von vier gefangenen Genossinnen zeigt: «Unsere Befreiung von der iranischen Diktatur kann nur gelingen durch den Massenwiderstand des Volkes, die Mobilisierung gesellschaftlicher Kräfte und nicht durch das Vertrauen auf ausländische Mächte.»
Diese Worte geben unsere Position gegen den Krieg wieder, gegen diese Todesmaschinerie, denn Krieg ist der Tod von jedem sozialen Prozess. Deshalb ist es auch wichtig, unnachgiebig für Frieden zu kämpfen. Zugleich sollten wir auch keine einzige politische und ökonomische Forderung zurücknehmen. Der Klassenkampf muss politisch eigenständig bleiben und das heisst, er kann seinem Wesen nach nicht mit dem Imperialismus kollaborieren, aber er darf auch nicht auf den Diskurs der Vaterlandsverteidigung zurückfallen. Gerade im antiimperialistischen Kampf sollten wir nicht aus den Augen verlieren, wofür und wogegen wir kämpfen. Wenn die Herrscher der islamischen Republik von der «Freiheit und Unabhängigkeit» unserer Heimat sprechen, dann meinen sie in erster Linie ihre eigene Freiheit und Unabhängigkeit in der Gestaltung der Ausbeutung in dieser Heimat. Ihre Heimat bedeutet für die Arbeiter_innen, Landwirt_innen, Kurd_innen, Araber_innen, Belutsch_innen, Afghan_innen etc: Ausgrenzung, Armut, Gewalt, Unterdrückung. Ihre Heimat bedeutet für uns Knast, Flucht, Exil. Deshalb ist ihre Heimat nicht unsere Heimat. Wir kämpfen für unsere eigene Sache, für unser eigenes Verständnis von Heimat, nicht die Geografie definiert, sondern die Menschlichkeit und ein würdiges Zusammenleben.
Und hier will ich den Bogen schlagen zu der zweiten Ebene des Widerstandes, hin zu dem Alltagswiderstand der Menschen, der vielleicht viel kleiner und « unpolitischer» anmutet, aber es ist meiner Meinung nach der eigentliche Kern der Solidarität zwischen den Menschen. Als große Teile der Bevölkerung Teheran verlassen mussten, wurden ihnen in vielen Städten die Haustüren geöffnet und die Menschen haben Fremde, die nirgendwo hinkonnten, bei sich aufgenommen. Vielerorts gab es Berichte, wie Leute grosse Mengen an Essen gekocht haben, um es an die fliehenden Familien zu verteilen. Das sind kleine Formen von Solidarität und Zusammenhalt, die dem Chauvinismus objektiv entgegengetreten und die Menschen von unten zusammenführen. Gerade in Situationen von Angst und Unsicherheit haben viele erkannt, dass sie sich gegenseitig die besten Freunde und die beste Hilfe sein können. Vielleicht erinnerte es uns auch an die Erfahrung des Jina-Aufstands 2022, als verschiedene Jugend- und Stadtteilkomitees gegründet wurden, um den Widerstand und das Leben zu organisieren.