Aufgerieben zwischen Auf- und Abwertung

Die sogenannten «Gammelhäuser» an der Neufrankengasse 6/14 wurden geräumt. Damit schliesst die Stadt Zürich eine weitere Säuberungs-Etappe des Langstrassenquartiers ab. Wir haben mit einem Anwohner über die Geschichte dieses Teils der Stadtentwicklung gesprochen.

Seit der Razzia im Herbst 2015 standen die zwei Häuser an der Neufrankengasse 6/14 im medialen Brennpunkt: Desolate hygienische und infrastrukturelle Bedingungen, horrende Mietpreise und die Ballung von Drogenumschlagsplatz und Sexarbeit. Mittlerweilen wurde gegen den Besitzer Peter Sander Anzeige wegen Mietwuchers erstattet. Auf Ende Jahr wurden die Häuser nun geschlossen und verbarrikadiert. Wir haben mit Mario, einem ehemaligen Nachbarn der von den Medien als «Gammelhäuser» betitelten Liegenschaften, über die Geschichte dieses neuralgischen Teils des Langstrassenquartiers gesprochen, in der sich Sander, die SBB, das Milieu, die Stadtplaner und die Polizei gegenseitig in die Hände spielen.

Hass auf die SBB

Die heutige Situation hat sich schon vor gut 20 Jahren abgezeichnet als die SBB ihre Liegenschaft an der Neufrankengasse 10 für die Gleiserweiterung abreissen wollten. Die 12 Familien – alles MigrantInnen – sollten mit einer einmaligen Zahlung von je 30‘000 CHF dazu bewogen werden, das Feld freiwillig zu räumen. Dies scheiterte am starken Zusammenhalt der BewohnerInnen, die das «Angebot» kollektiv abgelehnt haben. Die SBB liessen daraufhin das ganze Gebäude samt Fundament verschieben. Später setzte sich die SBB aber doch durch. Sie versprach den Familien alternative Wohnungen, schmiss sie alle raus und hielt dann das Versprechen nicht. Auch Mario wohnte seine ganze Kindheit und Jugend in diesem Haus. Heute wohnt er am Stadtrand und muss die Wohnung seiner Eltern mitfinanzieren. So resümiert er: «die SBB geben nichts auf Menschen, sondern wollen nur ihren Profit durchsetzen». Heute werden im Haus Luxuswohnungen für 3›000 CHF an ArchitektInnen-WGs vermietet. Der Hass auf die SBB ist gross: «Wenn ihr mal eine Demo oder eine richtige Aktion gegen die SBB oder gegen die Lagerstrasse organisiert, bin ich dabei».

Illegales Geschäft outgesourct

Aber Immobilienspekulanten schlagen im Langstrassenquartier nicht aus reichen ZuzügerInnen Rendite, sondern auch aus dem Elend. Anfangs der 2000er Jahre, wurden nämlich die Häuser an der Neufrankengasse 6/14 an Sander verkauft. Mario erinnert sich, dass Sander die zwei Blöcke damals jedoch für etwa 8 Millionen erworben hatte – heute bietet die Stadt für die Häuser 26 Millionen. Mit Sander änderte sich die BewohnerInnenschaft stark. Er machte aus allen Drei- und Vierzimmer-Wohnungen Einzimmerparzellen. «Sander holt damit aus diesen Häusern viermal so viel rein wie zuvor», so Mario. Für 14 Quadratmeter verlangte er 1‘200 CHF. Maximale Verwertung also. Schon immer war Mario erstaunt, dass das Ganze von der Stadt geduldet wurde. «Es muss doch auffallen, dass so viele Leute gar nicht in den Häusern wohnen können, wie Mietverträge mit dem Sozialamt abgeschlossen wurden». Sogar die Autogaragen wurden zu «Wohnungen» umfunktioniert und vermietet. Wie ein Meister bewegte sich Sander dabei für die maximale Profitmache im legalen Rahmen. Für Mario ein typischer Ausdruck für die Schweiz: «Hier agiert die Mafia so: Sie hat Kapital, ein Blatt Papier und einen Kugelschreiber». Abgezockt wird per Vertrag.

Und doch mischte sich der legale mit dem illegalen Bereich. Die so genannten Gammelhäuser haben auch ausserhalb der offiziellen Buchhaltung Geld abgeworfen. So wurde bei Sanders Hausdurchsuchung Bargeld von 1.5 Millionen CHF gefunden. Sander hat bewusst auf eine MieterInnenschaft gesetzt, die sich nicht wehren kann. Und um die explosive Mischung dort unter Kontrolle zu bringen, hatte er von Beginn an zwei Abwarte angestellt. «Diese mussten sich am Anfang in harten Kämpfen durchsetzen und zeigen wer der Stärkere ist», so Mario. Mit ihnen hat sich innerhalb der Häuser aber auch ein zweiter Markt herausgebildet: 5000 bis 6000 CHF pro Tag wurden über die Vermietung zusätzlicher Zimmer und von Meldeadressen, über den Anbau von Gras und natürlich durch Dealen umgesetzt. In die Taschen der Abwarte ist dabei sehr viel Geld geflossen. Und diese wiederum haben Gelder im Wert von 150‘000 CHF nicht an Sander weitergeleitet. Es wurde viel gemunkelt, weshalb Sander dies zuliess. «Er war damals mit seiner Scheidung beschäftigt. Aber am wahrscheinlichsten ist, dass Sander die Abwarte als Bauernopfer brauchte», vermutet Mario. Sander überliess ihnen den illegalen Bereich, damit seine Hände sauber blieben. Und tatsächlich – einer der beiden Abwarte wurde für lange Zeit in U-Haft gesetzt.

Zwischen Auf- und Abwertung

Für Mario und die BewohnerInnen der Neufrankengasse 10 war diese Entwicklung fatal. Zum einen stieg der Druck durch die SBB. Zum anderen wurde ihre direkte Wohnumgebung abgewertet. «Weisst du, man kommt in eine komische Rolle. Man schätzt plötzlich Ruhe und Ordnung, weil man einfach nicht so leben kann, wenn im Nebenhaus nur noch alles abfuckt». Das Verhältnis zu den BewohnerInnen der «Gammelhäuser» war ambivalent. Mario empfindet Mitleid und kritisiert, dass diese von der Stadt praktisch aufgegeben wurden. Auch hätten sie von der Neufrankengasse 10 den Bedürftigen oft Sandwiches gemacht haben und versucht, deren Leid zu lindern. Gleichzeitig mussten die BewohnerInnen manchmal aber rabiat ihren Hof vor Leuten schützen, die dort konsumieren und dealen wollten. Für die Kinder war es keine haltbare Situation, dass Spritzen oder gar Schusswaffen im Hof lagen, die nach einer Schiesserei liegen geblieben waren. «Die Bereitschaft, den Bullen ab und zu einen Tipp zu geben, wenn gerade Packete in unserem Hof versteckt wurden, steigt in dieser Situation», so Mario. Doch die Bullen hätten die Situation nie ernst genommen. Den Höhepunkt erreichte diese Entwicklung als die BewohnerInnen der Neufrankengasse 10 sich bewaffnet versammelten und das organisierte Milieu in einer Massenschlägerei aus dem Hof zurück drängten. «Ich muss sagen, das war einer der stärksten Momente, die ich erlebt habe, wenn man zusammensteht, sich verteidigt und die Situation selber regelt», reflektiert Mario. Kurz darauf wurde der Hof eingezäunt. Mario sieht hierin einen Unterschied zur Entwicklung im restlichen Quartier: «Bei uns sammelte sich gegen Ende wirklich alles, was keine Perspektive hat. Das war wirklich das Ghetto, das ist nicht zu vergleichen mit dem Rest des Quartiers. Da bist du froh, wenn jemand etwas nach Regeln und Ordnung schaut. Wir mussten uns schützen».

Sander muss weichen

Das aktuelle Ende der «Gammelhäuser» verweist darauf, welche Funktion Immobilienspekulanten wie Sander nach Mario für die Stadt haben. «Sander wurde die ganzen Jahre in Ruhe gelassen. Jeder wusste, dass sich die ganze Szene von der Langstrasse hierhin verlagert hatte». Der Stadt kam das gelegen. Sie konnte die sichtbare Drogenszene in diesen Häusern verstecken. «Dort war alles auf einem Haufen und die Abwarte hatten die Szene im Griff.» Aber dem übergeordneten Plan musste Sander nun weichen. «Die SBB macht ja nicht nur die Lagerstrasse kaputt. Ihre Pläne ziehen sich den Geleisen entlang bis nach Altstetten». Die SBB standen hier mit Sander schon lange auf Kriegsfuss. Beide wollten Profite. Die SBB und die Stadt wollten für Reiche bauen und Sander wollte die alten Häuser überteuert an Arme vermieten. Letztlich waren erstere am längeren Hebel. Mit der Razzia 2015 war klar, dass die Stadt das Konzept Sander langsam aufgibt. Mario spekuliert hier in zwei Richtungen über den Zeitpunkt. Die Stadt könnte Sander mit der Razzia bestraft haben, weil er die Langstrasse 104 umgebaut und dem Sexgewerbe dort neue Räumlichkeiten angeboten hat. Wahrscheinlicher ist aber, dass der Beginn der letzten Bau-Etappe der Europaallee nun direkt an der Langstrasse anstand. «Die Stadt wollte nicht, dass so ein Brennpunkt so nah am Prestige-Bau liegt». Wie dem auch sei, für Mario ist klar, dass beide – die Aufwerter wie die Profiteure des Elends – dem Lebensraum «Stadt» für Profit den Garaus machen.

Aus aufbau 88