Den Neoliberalismus in die schranken weise

Die reaktionäre Welle trifft auf Widerstand und bringt die politischen Verhältnisse ins Wanken. In vielen Ländern steht die herrschende Klasse unter Druck. Ein Blick auf den Südteil des Kontinents.

(gpw) Chile ist erwacht: Eine Protestwelle richtet sich gegen die soziale Ungleichheit im Land. In Argentinien wurde der neoliberale Superstar Maurcio Macri bei den Wahlen abgestraft, zu hart trafen seine Reformen die ArbeiterInnenklasse und die Mittelschichten. In Ecuador hielten die militanten Proteste so lange, bis der Wolf im Schafspelz, Präsident Lenín Moreno, den Ausnahmezustand verhängen, aus der Hauptstadt Quito fliehen und die Aufhebung der Benzin-Subventionen streichen musste (s. Interview in dieser Nummer). In Kolumbien wurde der erste Generalstreik seit Jahrzehnten durchgeführt. Die offenen Adern Lateinamerikas pumpen wieder Blut durch die gebeutelten Klassen der Bevölkerung.

Chile

Chile galt seit dem Ende der Militärdiktatur von Augusto Pinochet (1973-1990) als Musterdemokratie, auf die neoliberale ApologetInnen gerne verwiesen: stabil und ein solides wirtschaftliches Wachstum. Die neoliberale Politik schien aufzugehen, lange Zeit konnte der Unmut der Verlierer dieses Kurses unter dem Deckel gehalten werden, grössere Protestbewegungen gab es nicht. Seit 2011 versucht eine aufmüpfige, teils militante SchülerInnen und StudentInnen Bewegung das durchprivatisierte Bildungssystem aufzubrechen. Sie fordern mehr Chancengleichheit und besseren Bildungszugang. Hinzu kommen kämpfende RentnerInnen, die mit ihrer Pension nicht genug zum Überleben erhalten. 50 Prozent der Chileninnen und Chilenen arbeiten im Niedriglohnsektor und verdienen so wenig, dass sie eine durchschnittliche Familie nicht allein versorgen können ohne unter die Armutsgrenze zu fallen.

Die Ticketpreise des öffentlichen Nahverkehrs in Santiago de Chile waren in den letzten Jahren immer wieder erhöht worden. Auf die Ankündigung, die Preise ein weiteres Mal zu erhöhen, reagierten zuerst die SchülerInnen und Studierenden. Sie drangen in Massen in die U-Bahnhöfe ohne zu bezahlen. Als es im Zuge dieser Aktionen zu grösseren Sachbeschädigungen und Plünderungen von Geschäften kam, rief der rechts-konservative Präsident Sebastián Piñera den Ausnahmezustand aus. Zum ersten Mal seit dem Ende der Militärdiktatur patrouillierten Panzer in den Strassen von Santiago. Schnell waren auch die ersten Toten zu beklagen. Trotzdem oder gerade deswegen wurde der Protest immer stärker, die Gewerkschaften mobilisier(t)en, es gab Streiks in den Häfen und im Bergbau und weiteren wirtschaftlichen Sektoren. Die Mobilisierungen führten zu den grössten Demonstrationen der jüngeren Geschichte und gipfelten in mehreren Generalstreiks. Zentrale Forderungen sind der Rücktritt des Präsidenten und die Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung Piñera reagierte anfänglichen Lippenbekenntnissen, wie die Entlassung der Minister und der Ankündigung sozialer Reformen. So wurde die 40-Stunden-Woche eingeführt, über 700 Unternehmer kündigten an, künftig Löhne über 500‘000 Pesos (ca. 640 Franken) zu zahlen. Zudem wurde die Mindestrente leicht erhöht. „Wir haben die Nachricht der Bevölkerung verstanden“, twitterte der Präsident, angesichts der massiven Mobilisierungen. Doch bisher liess sich der Protest nicht besänftigen und geht weiter. Gemäss Umfragen glauben 88 Prozent der ChilenInnen nicht, dass die Reformvorschläge die grundsätzlichen Probleme lösen. Doch weiter geht die Regierung nicht und dreht massiv an der Repressionsschraube. Seit Beginn der Proteste wurden über 5500 Personen festgenommen, über 2000 verletzt, davon über 1000 durch Schusswaffen.

Argentinien

Maurico Macri ist mit seinem Vorhaben, Argentiniens Wirtschaft neoliberal umzugestalten, gescheitert. Bei den Wahlen Ende Oktober gewann der Herausforderer des Mitte-Links-Bündnisses „Frente de Todos“ Alberto Fernández. Er rief dazu auf, wieder „ein Argentinien der Gleichheit und der Solidarität zu schaffen“. Macris Politik traf die argentinische ArbeiterInnenklasse und die Mittelschichten hart: Subventionen wurden gestrichen und marktliberale Reformen durchgesetzt.

Die Verschuldung stieg massiv an, das Land steht vor dem Kollaps, es droht eine Hyperinflation – seit dem letzten Staatsbankrott Argentiniens sind noch keine zwanzig Jahre vergangen (2001). Auch den bei vielen verhassten Internationalen Währungsfond (IWF) holte Macri in Land zurück: 57 Milliarden Dollar, den grössten Kredit, den der IWF je gewährt hat, half wie immer den gleichen: Den Kapitalisten und deren Handlagern (s. Artikel auf der Kulturseite).

Seit zwei Jahren erlebt das Land eine Krise mit wachsender Armut, die zwischen 30-35 Prozent der Bevölkerung umfasst. 14 Millionen Menschen drohtrn Mangelernährung oder sogar Hunger. Die Zahlen von schwerer Ernährungsunsicherheit (nichts mehr zu essen zu haben) und „nur“ der gemässigten (Einbussen bei der Qualität und Menge der Ernährung) verdoppelte sich in beiden Fällen. Damit liegt Argentinien über dem lateinamerikanischen Durchschnitt. Ein Job reicht meistens nicht mehr, um das Überleben zu sichern. Man sieht immer mehr Menschen in den Abfällen nach Essbarem suchen. Darüber hinaus gibt es eine verstärkte Kapitalflucht.

Nicht so bei den Reichen und Schönen des Landes: Trotz ökonomischer Krise ist das Vermögen des Ex-Präsidenten Macri, wichtiger Minister und politischer Freunde deutlich gestiegen. Die Familie Macri zählt zu den reichsten des Landes. Ihr Vermögen wird auf rund 500 Millionen Franken geschätzt. Dieses akkumulierte sie in der Macri-SOCMA-Gruppe vor allem während der Militärdiktatur 1976-1983, in den Bereichen Bauwesen, Automobilindustrie, Flugzeuge, Gebührensystem, Müllabfuhr und Lebensmittelindustrie. Heute zählt sie zu den grössten Holdinggesellschaften in Amerika. Doch auch andere profitierten: Der Chef des Nachrichtendienstes besass 2018 rund 280 Millionen Pesos (4.6 Millionen Franken) an Vermögen, fast 100 Prozent mehr als noch 2017. Der Finanzminister konnte einen Anstieg seines Vermögens um 80 Prozent verbuchen.

Was fehlt

Sowohl in Chile, als auch in Argentinien, fehlt eine fassbare Gegenmacht, eine gesellschaftlich relevante, revolutionäre Perspektive. Dies gilt auch für die anderen Länder, in denen die Krise durchschlägt. Es ist zu befürchten, dass die linken Proteste, so stark sie situativ auch sein mögen, am Ende ohne tiefgreifende Wirkung verpuffen.

Macri hat seine Wahlniederlage sofort eingeräumt und seinem Herausforderer gratuliert. Zu keinem Zeitpunkt wurde die Wahl von einer gewichtigen gesellschaftlichen Kraft in Frage gestellt. Selbst die normalerweise nervösen Märkte blieben ruhig. Fernández steht denn auch nicht für ein radikal reformistisches Projekt. Er wird vielmehr versuchen, die übelsten Auswüchse der neoliberalen Politik seines Vorgängers zu dämpfen, wie das Anwachsen der hohen Armutsrate oder die sehr hohe Inflation. Ein Bruch mit den Vereinbarungen zum Kredit des IWF steht indes noch nicht im Raum, was die Richtung von Fernández‘ Politik wohl aufzeigt.

In Chile wiederum, wo das Sprengpotential um einiges grösser ist, zeigt sich die integrative Kraft des Kapitalismus in seiner schönsten Form. Trotz höchst repressivem Klima und andauernden Demonstrationen einigten sich die Regierungsparteien und Teile der Opposition auf einen Kompromiss. Demnach ist für April 2020 ein Referendum vorgesehen, in dem die ChilenInnen entscheiden können, ob sie eine neue Verfassung wünschen. In einem zweiten Schritt wird darüber abgestimmt, wie eine verfassungsgebende Versammlung zusammengesetzt zu sein hat. Zur Wahl steht eine gemischte Versammlung aus ParlamentarierInnen und VolksvertreterInnen oder eine Versammlung, die zu 100 Prozent aus VertreterInnen der Bevölkerung besteht. Die Krux dabei ist, dass gewisse Teile der Opposition und die sozialen Bewegungen, der radikalste Teil der Proteste, bei den Verhandlung zu diesem Kompromiss ausgeschlossen waren. Auch die Gewerkschaften kritisieren, dass dieser Kompromiss hinter dem Rücken der chilenischen Bevölkerung ausgehandelt wurde und nicht weitreichend genug sei. Zudem muss eine Zweidrittelmehrheit dem Ergebnis der verfassungsgebenden Versammlung zustimmen, was schwierig zu erreichen ist. Sollte dieses hohe Quorum nicht zustande kommen, bleibt die Verfassung, die noch aus der faschistischen Zeit der Militärdiktatur stammt (1973-1990), weiterhin bestehen. Es ist zu hoffen, dass soziale Bewegungen weiterhin stark mobilisieren und Druck aufbauen und die sich bildenden, offenen Räte politische Substanz entwickeln. Ansonsten sind wohl nur kleine Korrekturen im neoliberalen Kurs der herrschenden Klasse in Chile zu erwarten. Sollte das nun angebotene Zuckerbrot nicht reichen, steht die Peitsche – mit noch grösserer Brutalität – mit Sicherheit bereit.

aus: Aufbau 99