Streik im Spital: «Malt Banner, schickt uns Bilder!»

Die Angestellten des Lausanner Spitals CHUV (Centre Hositalier Universitaire Vaudois) haben angekündigt, am 23. Juni 2021 zu streiken. Sie fordern mehr Lohn, Anerkennung und Personal. Wir haben uns mit einem Gewerkschafter darüber unterhalten, was dieser Streik für eine Bedeutung hat – und wie wir ihn von Zürich aus unterstützen könnten.

(agafzh) Könntest du kurz den Kontext dieses Streiks erklären?

Ich denke, es gibt zwei Seiten dieser Situation. Die erste Seite ist das seit zehn Jahren bestehende System der Krankenhausfinanzierung, welches das Krankenhaus zu einem Unternehmen macht. Das bedeutet, dass Krankenhäuser entweder Gewinne oder Verluste machen, obwohl sie staatliche Dienstleistungen sind. Das ist so, als würde man vom Bildungsministerium verlangen, dass es Konten veröffentlicht, um Gewinne zu machen. Es gibt also eine Logik der Kostenrationalisierung, der Bevorzugung von Eingriffen, die Gewinne einbringen, usw. Und da 65% der Kosten des Krankenhauses Personalkosten sind, ist es offensichtlich, dass dort die Kürzungen vorgenommen werden. Die Mitarbeiter befinden sich also in einer permanenten Unterbesetzung, das ist das Hauptproblem. Und das liegt am Finanzierungssystem. Davor war es zwar auch kein Paradies, aber jetzt sind wir in einer Situation, in der das, was kostet, die Menschen sind und daran gekürzt wird. Infolgedessen wird Personal abgebaut, gekürzt, und oft werden Aushilfskräfte eingesetzt, um einzuspringen. Das ist die allgemeine Situation.

Der zweite Aspekt, der zu einem Streik führte, waren die mit der Situation verbundenen subjektiven Faktoren. Die Pandemie rückte die Krankenhäuser in den Mittelpunkt der öffentlichen Diskussion. Und das schuf eine Gelegenheit für uns, denn seit Jahren hatten wir auf Gewerkschaftsebene gesehen, wie sich die Situation verschlechterte, aber wir hatten nicht die konkrete Kraft, eine Mobilisierung zu starten. Unter diesen sehr schwierigen Arbeitsbedingungen finden die Mitarbeiter individuelle Lösungen: Sie reduzieren ihr Arbeitstempo, lassen sich beurlauben oder wechseln ganz den Arbeitsplatz. Diese pandemische Situation war der Auslöser, eine Lösung für den kollektiven Kampf vorzuschlagen.

Wie kommt es, dass der Streik so weit im Voraus angekündigt wurde?

Nun, ein Streik im Öffentlichen Dienst des Kantons Waadt ist nichts völlig Fremdes, es gab bereits Streiks in den Jahren 2018, 2013, oder 2008. Es ist also etwas, das im Bereich des Möglichen liegt, auch wenn es im Krankenhaus kompliziert ist. Wir mussten dies so früh ankündigen, weil es zum einen Teil eines Kalenders von Verhandlungen und Mobilisierungen ist. Aber auch weil ein Streik in einem Krankenhaus geplant werden muss, kann man nicht von einem Tag auf den anderen sagen, dass man nicht zur Arbeit kommen wird. Und es ist auch eine Möglichkeit, den Staatsrat einen Monat lang unter Druck zu setzen. Dieser Streik macht ihnen sehr viel Angst, ich glaube, sie haben versucht, ihn mit allen Mitteln zu verhindern, sogar vor Gericht – aber ich erspare dir die Details.

Wie wird der Streik tatsächlich funktionieren? Wohl wissend, dass es in Sektoren wie dem Gesundheitswesen schwierig ist, auf die gleiche Weise zu streiken wie zum Beispiel in einer Fabrik.

Das ist die wichtige Frage. Und es lässt mich an eine ziemlich aktuelle Mobilisierung hier in Lausanne denken. Im Jahr 2018 gab es eine starke Mobilisierung rund um einen Streik in den Kinderkrippen, bei dem sich zehntausend Menschen in der Riponne versammelten – etwas, das wir uns nie hätten vorstellen können. Diese Mobilisierung basierte auf einer Allianz zwischen Mitarbeitenden und Nutzenden, in diesem Fall speziell zwischen dem Personal der Kinderkrippe und den Eltern. Dass die Mobilisierung so erfolgreich war, lag daran, dass sich viele Eltern freiwillig entschieden hatten, ihr Kind nicht in die Krippe zu bringen, sondern an der Mobilisierung teilzunehmen. Das ist im Grunde das, was man sich bei einem Streik im öffentlichen Dienst immer wünscht, eine Allianz zwischen Mitarbeitenden und Nutzenden. Ein bisschen an diesem Prinzip versuchen wir jetzt auch im CHUV zu arbeiten. Es wird mehr ein Streik des Pflegepersonals sein als einer der anderen Funktionen des Krankenhauses. Und es stellt sich die Frage nach dem moralischen Standpunkt des Pflegepersonals. Das bedeutet, dass die Mitarbeiter Angst haben, ihren Dienst zu verlassen, weil sie sich fragen, was passiert, wenn sie nicht anwesend sind. Als Gewerkschaft versuchen wir, daran zu arbeiten, indem wir die Leute auffordern, sich bei ihrer Abteilung als Streikende zu melden. Wenn eine Abteilung zu viele Streikende hat, um das Minimum zu gewährleisten, dann kann der Chef sie anfordern. Aber was wir sagen ist, dass das was angestrebt werden sollte, wirklich die Mindestleistung ist. Zum Beispiel in der Nacht, wenn keine Analysen, Untersuchungen, Operationen etc. stattfinden. Es ist schwierig, weil viele Pflegekräfte ein sehr hohes berufliches Gewissen haben. Und deshalb versuchen wir allen, auch der Öffentlichkeit klar zu machen, dass dieser Streik nicht nur für sie, für die Mitarbeitenden, sondern auch für die Patient_innen ist.

Verfügt die Gewerkschaft über Bekanntheitsgrad und Verankerung im Spital?

Ja, wir sind anerkannt, wir arbeiten seit langem mit einem Komitee, einem kleinen Kollektiv, das gut funktioniert. Zahlenmäßig ist die Mitgliederbasis bescheiden, auch was das kämpferische Engagement angeht, vor allem wegen der intensiven Arbeitszeiten, die nicht viel Freizeit lassen. Wir konnten aber unsere Mitgliederzahl erhöhen, was relativ kompliziert ist, weil wir immer noch eine recht teure Gewerkschaft sind. Aber vor allem gibt es echte Vertrauensverhältnisse, die Menschen vertrauen uns, sie rufen uns oft an, wenn sie uns brauchen. Sie denken nicht, dass wir dem Management zu nahe stehen, sondern dass wir unabhängig sind. Wir haben zum Beispiel für Leiharbeiter_innen gekämpft, die seit Jahren dort waren, bezahlt nach dem Schleuderprinzip und ohne festen Vertrag. Wir haben Druck auf das Management ausgeübt, bis sie eingestellt wurden. Ein anderes Beispiel ist der Kampf, den wir jahrelang mit dem Staatsrat geführt haben, um die Gehälter der Geringverdiener zu erhöhen, von Kategorie 1 bis 5. Es ist uns gelungen, eine sehr große Erhöhung zu erreichen, nämlich fünftausend Franken pro Jahr. Wir haben also verschiedene Kämpfe gewonnen, einige davon bescheiden, aber die Leute wissen davon und deshalb vertrauen uns die Mitarbeiter_innen. Das schafft Legitimation.

In der aktuellen Schlacht konzentrieren wir uns auf die Belegschaft. Konkrete Kämpfe zu führen ist schwieriger zu diskutieren, weil die Leute denken, dass das Management keinen Handlungsspielraum hat. Andere konzentrieren sich auf den COVID-Bonus, weil es zwar einen gab, aber das System für dessen Vergabe kompliziert und unverständlich ist. Wir konzentrieren uns auf die Personalausstattung, für einen langfristigen Krankenhausfinanzierungsplan.

Wie sieht die Mobilisierung aus?

Zum Zeitpunkt, während dem wir sprechen [Anm. d. Red.: Das Interview wurde am Freitag, 11. Juni 2021 geführt] habe ich nur eine Gewissheit: Es wird eine riesige Mobilisierung sein – oder zumindest einen grossen Anschein erwecken. Über die tatsächliche Anzahl Menschen bin ich mir weniger sicher. Das ist die ganze Arbeit, die wir in den nächsten Woche machen werden, mit Bereitschaftsdienst, Flugblattaktionen, wo immer es möglich ist, um zu versuchen, diese Mobilisierung in eine starke Streikbewegung zu verwandeln. Wir versuchen, die Botschaft zu vermitteln, dass das, was den Ausgang dieses Kampfes bestimmen wird, was in den Verhandlungen Gewicht haben wird, die Anzahl der Streikenden und die Fähigkeit zum Neubeginn sein wird.

Gibt es einen Zusammenhang mit vergangenen Mobilisierungen? Zum Beispiel mit dem feministischen Streik von 2019?

Ja, es gibt Zusammenhänge. Es ist klar, dass wenn man solche Kämpfe führt, den feministischen Streik oder ähnliches, dann gewinnt man Menschen für sich, man schafft Vertrauensverhältnisse, Netzwerke usw. Und es bleibt. Aber der feministische Streik war anders, weniger professionell in Bezug auf die Forderungen, es waren breitere politische Forderungen. Diese waren nicht unbedingt direkt mit den Arbeitsbedingungen der Mitarbeiter_innen verbunden. Dies ist sicherlich auch einer der Gründe, warum die Geschäftsführung, sogar der Staatsrat, am 14. Juni 2019 anwesend war. Ich kann dir aber versichern, dass sie während dieses Streiks nicht auftauchen werden. Ich möchte klarstellen, dass dies keineswegs eine Kritik am feministischen Streik ist, der eine echte und starke autonome Bewegung war. Ich will damit nur sagen, dass die aktuelle Mobilisierung direkter mit den Arbeitsbeziehungen, mit der Situation der Mitarbeiter_innen als Angestellte zu tun hat.

Wie können wir euren Streik aus der Deutschschweiz unterstützen?

Für uns wäre es toll, wenn ihr kleine Solidaritätsaktionen, wie z.B. Banner machen könntet und uns Bilder schickt. Denn ich denke, dass den Mitarbeiter_innen hier das Interesse an ihrer Bewegung nicht bewusst ist. So können wir gerade dadurch dem Personal im Kampf starke moralische Unterstützung geben.