Marsch für’s Läbe? Nicht mit uns! Chronologie des Widerstands

Am Samstag, 18. September 2021 jährt sich der «Marsch für’s Läbe» zum zwölften Mal. Der Marsch der frauenfeindlichen und LGBTIQ-verachtenden Abtreibungsgegner_innen mit erzkonservativer Wertevorstellung und die Proteste dagegen sind geprägt von einer turbulenten Geschichte.

(agafz) Am 2. Juni 2002 wurde von der stimmberechtigten Bevölkerung der Schweiz das Gesetz der Fristenregelung mit grosser Mehrheit angenommen. Dieses ermöglicht es Frauen, bis zur 12. Schwangerschaftswoche auf legalem Wege eine Abtreibung durchzuführen. Der «Marsch für’s Läbe» (MfL) wurde 2010 von einem Teil derjenigen Organisationen ins Leben gerufen, welche in der damaligen Abstimmung unterlagen.

Auge in Auge

Per Zufall und sehr kurzfristig entdeckte die politische Widerstandsbewegung die Plakate, mit denen für den MfL 2010 geworben wurde – dementsprechend chaotisch und unorganisiert war auch die Gegenmobilisierung gegen den ersten MfL, welcher eine Kundgebung in Zürich auf dem Helvetiaplatz und eine Demonstration durchs Stadtzentrum umfasste. Der Protest war dennoch erfolgreich: aufgrund fast gänzlich abwesender Polizei konnte gegen die Fundis aus nächster Nähe Widerstand geleistet werden.

Dies wiederholte sich auch in den folgenden drei Jahren bei den Märschen rund um den Helvetiaplatz, den Münsterhof und den Turbinenplatz in Zürich. Es gab viel Solidarität aus der Quartierbevölkerung, der Konsens gegen die lebensfeindlichen Fundamentalist_innen war sehr breit und dementsprechend beteiligten sich die unterschiedlichsten Leute an den Gegendemonstrationen. Der Protest gegen den MfL war vielfältig: bunt, kreativ, glitzrig, nackt, provokativ und militant. Es gab (homosexuelle) Kiss-in’s, mit Wasser gefüllte Kondome als Wurfgeschosse, ohrenbetäubender Lärm aus Hupen und Trillerpfeifen, einem Priester wurde während seiner Predigt ein rosa Dildo ins Ohr gesteckt und am Rande des reaktionären Marsches kam es immer wieder zu Rangeleien und Faustkämpfen zwischen den Ordnern und linken Aktivist_innen. Tränengas und Wasserwerfer der Polizei waren wenig hindernd für die Gegendemonstrationen. Auch inhaltlich wurde viel gearbeitet, über die Jahre wurden mehrere Broschüren vom «Bündnis für ein selbstbestimmtes Leben» herausgegeben, welches die Gegendemonstrationen jeweils organisiert.

Militarisierung und Verbannung

Aufgrund der Erfahrungen aus den letzten Jahren fühlte sich der Staat und damit die Polizei ab 2014 verpflichtet, den MfL besser zu schützen. So konnte dieser nur noch unter massivem Polizeiaufgebot durchgeführt werden, aber auch so dennoch nie ungestört. Der Marsch wurde zum «Wanderkessel», für die Gegenproteste gab es praktisch kein Durchkommen zu den Fundis mehr. Die Gegendemonstrant_innen liessen sich aber von Wasserwerfer, Tränengas und Gummischrot nicht einschüchtern und fanden immer einen Weg, den MfL zu stören. So wurde es der Stadt Zürich zu viel, und sie verbannte den MfL 2015 an den Stadtrand nach Oerlikon. Diese Dezentralisierungsstrategie machte den MfL unattraktiv, vor allem auch für Teilnehmer_innen, die von weit her anreisten. Doch auch in Zürich Oerlikon wurde es – trotz dutzenden verhafteten Gegendemonstrant_innen – widerständisch und die Abschlusskundgebung konnte dank einer Sitzblockade für einige Zeit verhindert werden.

Dass die Kundgebungen 2016 und 2018 ohne «Marsch» auf dem Berner Bundesplatz und die «Gebetswanderung» 2017 auf den Menzinger Gubel stattfanden, waren grosse Etappensiege im Kampf gegen die Reaktionären. Abgeschirmt von Polizeiketten oder allein auf einem Zuger Hügel verunmöglichte es den Fundis, ihre reaktionäre Propaganda zu verbreiten. Und die Erfolgsstory hielt auch im 2019 und 2020 an. 2019 musste ihr Marsch durch den Zürcher Kreis 5 wegen der massiven Gegenwehr von 2000 Demonstrant_innen stark verkürzt werden und 2020 lud das Kongresszentrum gate27 im Winterthur den MfL aus Angst vor den Protesten wieder aus. Für die Kundgebung im September 2021 forderten die Fundis wieder den Zürcher Münsterhof und die Innenstadt für den Demonstrationszug. Die Stadt Zürich bewilligte aus Sicherheitsbedenken allerdings nur eine stehende Kundgebung auf dem Turbinenplatz. Dagegen rekurrierte der MfL beim Statthalteramt erfolgreich – die Stadt muss nun einen Demonstrationszug bewilligen. Über den Ort hält sie sich bisher aus taktischen Gründen bedeckt.

aus: aufbau 106