Buchbesprechung: Wie man eine Pipeline in die Luft jagt

Die Klimabewegung hat sich bislang zum grossen Teil der Gewaltlosigkeit verschrieben. Ist damit aber nicht besonders weit gekommen. Der schwedische Humanökologe Andreas Malm denkt darüber nach, ob es nicht an der Zeit wäre, etwas radikaler zu werden.

(agkkzh) Die wissenschaftlichen Fakten bezüglich der Klimakrise, die Daten, die das Massenaussterben und die Erderwärmung beziffern, liegen auf dem Tisch, an dem führende Politiker_innen regelmässig zusammenkommen, um Klimaziele zu vereinbaren. Auf den Strassen vor den Tagungshotels und Regierungspalästen protestieren nicht erst seit gestern immer mehr Menschen. Sie starten Petitionskampagnen und sammeln Unterschriften. Trotzdem haben wir es mit einer nach wie vor boomenden Industrie für fossile Brennstoffe zu tun, Kapitalinvestitionen und Gewinne steigen kontinuierlich. Seit der ersten Klimakonferenz 1995 sind die jährlichen CO2-Emissionen weltweit um rund 60 Prozent gestiegen. Damals wurden durch die Verbrennung fossiler Treibstoffe mehr als sechs Gigatonnen Kohlenstoff in die Atmosphäre gepumpt (1 Gigatonne = 1000000000000 Kg); im Jahr 2018 lag die Zahl bereits bei über 10 Gigatonnen. Die aggressivsten Pläne zum Ausbau zeigen Shell und ExxonMobil, die eine Produktionssteigerung von 35% bis 2030 vorsehen, BP rechnet mit einem Anstieg um 20%.

Ist es also an der Zeit, das kaputt zu machen, was uns kaputt macht? In seiner Streitschrift «Wie man eine Pipeline in die Luft jagt» fordert Andreas Malm nichts weniger als die Eskalation: Wir müssen die Förderung fossiler Brennstoffe zum Stillstand bringen – mit unserem Handeln, unseren Körpern, mit allem, was uns zur Verfügung steht.

«Business as usual» stoppen

Das Fazit, mit dem Andreas Malm sein Buch beginnt, überrascht uns nicht. Weder Klimakonferenzen noch Demonstrationen haben am «business as usual» etwas geändert: Pipelines für fossile Brennstoffe werden weiterhin gebaut, nicht einmal Luxusemissionen wie bspw. Geländewagen in den Städten werden gestoppt. Für die Bewegung wären gerade diese tiefhängende Früchte. «Es wird Zeit, ein paar Stöcke in die Hand zu nehmen und die Früchte vom Baum zu schlagen», schreibt Malm in seinem Buch, das im Klappentext als «Manifest» deklariert wird.

Die Schwachstelle der Klimabewegung, meint Andreas Malm, ist ihr hoher Komfortlevel: als Phänomen des globalen Nordens ist sie sehr weiss und sehr mittelständisch. Die Klassenfrage wird meist beiseite gelassen. Dies ist auch der Nährboden dafür, dass viele in der Klimabewegung und der Grossteil ihrer Intellektuellen dem Pazifismus verhaftet bleiben und historische Bezüge diesbezüglich, wie bspw. Mahatma Gandhi, mystifiziert werden. Negierend, dass erfolgreiche soziale Bewegungen stets verschiedene Ebenen des Widerstands verbanden.

In seiner historisch fundierten Lesart der Geschichte erfolgreicher Befreiungskämpfe zeigt Andreas Malm, dass all diese Kämpfe bürgerliche Grenzen überschritten haben: Eigentum wurde zerstört, Infrastruktur angegriffen. Nur so konnte der notwendige Druck aufgebaut werden, um Veränderung voranzutreiben. Von den Suffragetten Anfang des 20. Jahrhunderts, die Brandanschläge verübten, über den Kampf gegen die Apartheid in Südafrika bis zum Aufstand gegen den Schah von Persien – immer sei der Erfolg an die Bereitschaft, militante Kampfformen anzuwenden, gekoppelt. Auch Martin Luther King hätte ohne die Drohung durch die klassenkämpferische Black-Power-Flanke seine Ziele wohl kaum erreicht. Die Veränderung der Kräfteverhältnisse benötigt also zwingend schlagkräftige Mittel.

Steigende Erfahrungskurven

Das Buch analysiert die verschiedenen Zyklen der Klimabewegungen, seit die erste ab 2006 durch Nordeuropa walzte. Erste Klimacamps wurden organisiert: Zeltstädte dienten als Orte des Lernens und als Ausgangspunkte für Massenaktionen gegen nahe gelegene Emissionsquellen – ein Flughafen, ein Kohlekraftwerk, ein Finanzviertel. 2011 nahm der zweite Zyklus seinen Ausgang, diesmal in den Vereinigten Staaten. Eine frustrierte Bewegung kehrte den Hallen politischer Gestaltung den Rücken und setzte eine nicht nachlassende Kampagne des zivilen Ungehorsams in Gang. Ihr Fokus galt dabei Keystone XL, eine geplante Öl-Pipeline von Kanada zur Golfküste. Später zogen die Sioux-Nationen während eines andauernden Protests gegen die geplante Dakota Access Pipeline immer grössere Scharen von Unterstützer_innen in ihrem Camp im Standing-Rock-Reservat an. Wie bei den Kämpfen gegen Keystone XL und Dutzenden anderen nordamerikanischen Pipelineprojekten standen indigene Aktivist_innen an der Spitze einer Bewegung, die Zigtausende bis dahin nicht politisierte Menschen anzog.

Dann, im Sommer 2018, legte sich eine Hitzeglocke über den europäischen Kontinent und entfachte Feuerstürme bisher ungesehenen Ausmasses. Ende des Sommers setzte sich Greta Thunberg vor den schwedischen Reichtstag und traf damit den Nerv ihrer Generation. Kinder und Jugendliche fingen an, freitags nicht mehr zur Schule zu gehen. Wellen des Schulstreiks rollten über Westeuropa und andere Teile der Welt und erreichten am 15. März 2019 ihren ersten Höhepunkt, als anderthalb Millionen Schüler_innen in dem wahrscheinlich grössten koordinierten Jugendprotest der Geschichte ihren Unmut streikend und marschierend zum Ausdruck brachte. Wenige Wochen später legte Extinction Rebellion einen Grossteil der Londoner Innenstadt lahm, als Tausende Aktivist_innen Plätze und Brücken besetzten. Von New York bis Sydney fanden sich reihenweise Nachahmer_innen auf den Strassen. Die Wachstumskurve setzte sich fort, als die Teilnehmer_innenzahl der «Fridays-for-Future»-Demonstrationen 2019 einen neuen Höchstwert erreichte: Mittlerweile waren es an einem Freitag vier-, am nächsten immerhin zwei Millionen Menschen, die an 4500 Orten auf allen Kontinenten protestierten – einschliesslich der Antarktis, wo Klimaforscher_innen ihre Messwerkzeuge niederlegten.

Malm porträtiert auch jene Teile der Bewegung, die militantere Formen einsetzen, Besetzungen organisieren, Sabotageaktionen verüben, wobei die Form der Aktionen noch nichts über deren weitergehendes Ziel aussagt. So bekannten sich beispielsweise zwei Arbeiterinnen des Catholic Worker Movements 2017 in den USA zu zahlreichen Brandanschlägen auf Maschinen von Pipelinebauten der Dakota Access Pipeline. Ebenfalls bohrten sie im ganzen Bundesstaat Iowa unzählige Löcher in verschiedene Pipelines. Das Eigentum, gegen das sie vorgingen, gehörte Energy Transfer, einem Konglomerat von Pipelinefirmen, in deren Vorstand unter anderem Rick Perry sass, Trumps Energieminister bis 2019.

Pionier der Pipeline-Sabotage aber ist der palästinensische Widerstand. Nach dem Ersten imperialistischen Krieg stürzten sich europäische und US-amerikansiche Ölkonzerne auf die im Persischen Golf entdeckten Vorkommen. Das zentrale Industrieprojekt in Palästina wurde der Bau einer Pipeline, die von Kirkuk quer durch die jordanische Wüste ins nördliche Westjordanland, über Galiläa bis zur Raffinerie in Haifa führen sollte. Als sich die Palästinenser_innen 1936 zu einem Generalstreik erhoben, konzentrierte sich ein Grossteil der Aktionen auf die Pipeline. Auf dem Höhepunkt des drei Jahre dauernden Aufstandes nahmen sie sie beinahe jede Nacht auseinander: setzten sie in Brand, durchlöcherten sie mittels Schüssen, legten unterirdische Rohre frei und jagten sie in die Luft. Da diese über weite Strecken unbewacht war, sahen sich die britischen Kolonisator_innen «nicht in der Lage, diese unabdingbare Pipeline zu verteidigen, und mussten hinnehmen», wie es in den Worten Ghassan Kanafanis, des Poeten der Voksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP), heisst, «dass ‹die Pfeife›, wie palästinensisch-arabische Bauern sie nannten, fester Bestandteil der Folklore wurde».

Solche und weitere inspirierende Beispiele des Widerstands machen das Buch sehr spannend. Malm reiht sich dort ein, wo die Unterscheidung zwischen Arm und Reich im Zentrum steht, für ihn gehören Klimakampf und Antikapitalismus zusammen.

«Wir sind das Investitionsrisiko»

Es sei an der Zeit für ein bisschen mehr Militanz. Malm schlägt neben dem vielfältigen Repertoire an Kampfformen wie Blockaden, Klimacamps, u.a. auch «intelligente Sabotage» vor, bei denen darauf geachtet werde, dass keine Menschen zu Schaden kommen. Dies müsse auch für die Radikalisierung der Klimabewegung gelten.

Zu Malms Beispielen für «intelligente Sabotage» gehört eine Aktion in Stockholm von 2007: Aktivist_innen liessen nachts die Luft aus den Reifen sämtlicher SUVs im wohlhabenden Viertel Östermalm. Sein Buch endet mit einer Aktion von «Ende Gelände» an der er selbst beteiligt war. Ende Gelände stellt eine fortgeschrittene Stufe des Klimakampfs in Europa dar und wächst von Jahr zu Jahr. Eine ihrer Parolen heisst: «Wir sind das Investitionsrisiko». Im Sommer 2019 brachten 6000 Menschen die grösste Emissionsquelle Deutschlands zum Erliegen, unterstützt von mehreren Tausenden im Camp und rund 40 000 auf einer Fridays-for-Future-Demonstration. Sie haben es geschafft, das Thema Braunkohle ganz oben auf die Tagesordnung zu setzen. Bei der Besetzung der Bahngleise zum Tagebau «Schwarze Pumpe» kam es zu einem spontanen Manöver: Eine Gruppe brach aus, überrannte einen Zaun und drang, am überrumpelten Wachpersonal vorbei, in das Kraftwerk ein. «Für einen pulsierenden, bewusstseinserweiternden Moment hatten wir ein Stück der unseren Planeten zerstörenden Infrastruktur in den Händen», schreibt Malm. Die Stromerzeugung musste unterbrochen werden – ein Akt des Widerstands, der einen anderen Druck erzeugen kann als blosse Proteste. Die Erfahrungskurve steigt kontinuierlich und es wachsen in ganz Europa Nachahmer_innen. Im Jahr 2019 wurden Dutzende Klimacamps von Polen bis Portugal organisiert.

Andreas Malm schreibt einerseits aus der Perspektive des historischen und ökologischen Forschers, andererseits auch aus der Sicht des Aktivisten. Das macht sein Buch so lebendig. Zugleich lässt er keinen Zweifel am Ernst der Lage. Er fordert dazu auf, kämpfen zu lernen in einer Welt, die längst in Flammen steht. Fatalismus sei «ein bürgerlicher Luxus», den sich die Armen, die die Folgen der Erderwärmung viel stärker zu spüren bekommen, nicht leisten können.

Wir gehen mit Andreas Malm einig, dass es dringlich ist, «radikaler» zu werden, bzw. das Übel an der Wurzel anzupacken. Die Notwendigkeiten dafür interpretieren wir in unserer eigenen Art und Weise: revolutionäre proletarische Organisationen, die Klassen- und Klimakampf radikal verbinden und in allen erdenklichen und praktikablen Formen die Machtfrage stellen.

Andreas Malm: Wie man eine Pipeline in die Luft jagt. Kämpfen lernen in einer Welt in Flammen
Aus dem Englischen von David Frühauf
Matthes & Seitz Berlin, Berlin 2020
240 Seiten.

aus: aufbau 106