Die Türkei befindet sich in einer politischen und ökonomischen Krise. Die Arbeitslosigkeit ist auf einem Rekordhoch, für viele Menschen ist die Versorgung mit Produkten des täglichen Gebrauchs nicht mehr gewährleistet und die staatliche Repression nimmt weiter zu. Aus diesem Anlass haben wir uns mit Yasar Aydin, dem Chefredaktor der türkischen Tageszeitung BirGün, getroffen, um über die aktuelle Lage und die Reaktion des linken Widerstands zu sprechen.
(agkkz) BirGün ist die meistgelesene linke Tageszeitung. Trotz ihres Erfolges hat sie ständig mit finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen. Das Inserieren von Werbung wird durch den Staat verweigert und es laufen Ermittlungen gegen einzelne Journalist_innen, weil sie angebliche Gülen-Anhänger_innen oder PKK-Sympathisant_innen seien. Auch gegen Aydin wurde aufgrund eines kritischen Berichtes, den er über den Präsidenten des Roten Halbmondes (analog zum Roten Kreuz) schrieb, Mitte August eine Strafuntersuchung eingeleitet. Mit Blick auf die aktuelle Situation in der Türkei wollten wir von Aydin wissen, was seine Einschätzungen bezüglich der anhaltenden Krise ist, wie die die Linke in der Türkei momentan aufgestellt ist und welche Bewegungen konstitutiv sind für den Widerstand. Das Gespräch/Interview mit Aydin konzentriert sich auf den Widerstand der breiten Bevölkerung und lässt bewusst den bewaffneten Widerstand ausser Acht.
Good-Bye Erdogan?
Gemäss Yasar Aydins ist die Zeit Erdogans in zwei Jahren vorbei. Diese Einschätzung widerspricht diametral den Einschätzungen, die in europäischen Medien reproduziert werden. Ausserhalb der Türkei wirkt es, als wäre Erdogan am Höhepunkt seiner Macht und dass er weiterhin seine Macht zementieren wird. In der Türkei jedoch haben die Menschen genug von Erdogans Politik. In zwei Jahren ist die Präsidentschaftswahl in der Türkei (die tatsächlich durch ein Referendum Erdogans ins Leben gerufen wurde), und gemäss der Prognose von Aydin wird Erdogan diese nicht gewinnen. Dieser sei nicht in der Lage, in den Bereichen Ökonomie und Innen- und Aussenpolitik nennenswerte Erfolge zu verbuchen. Zudem durchlebt die Türkei gerade ihre stärkste ökonomische Krise mit der AKP am Ruder. Weiter herrscht die höchste Arbeitslosigkeit, nach staatlichen Angaben liegt die Quote bei 15%, aber inoffizielle Quellen schätzen die Arbeitslosenrate markant höher ein. Durch die hohe Inflationsrate ist das Leben für die meisten Menschen in der Türkei so teuer geworden, dass sie sich alltägliche Produkte teils kaum leisten können. Ausländische Anleger haben, seit dem Putschversuch im Jahre 2016 und der hohen Repressionswelle, das Vertrauen in die Türkei als stabilen Investitionsstandort verloren, man weiss schlicht nicht, was passieren wird. Die AKP hat sich seit Beginn ihrer Regierungszeit zum Ziel gesetzt, alles, was in den Händen des Staates war, zu privatisieren. Banken, die ganze Landwirtschaft, Textilwirtschaft, der Hafen, Waffenfabriken, Metallfabriken wurden mit Hilfe der AKP privatisiert. Diese Privatisierung ist mit schuld an der ökonomischen und sozialen Krise. Beispielsweise können sich Personen der ärmeren Mittelschicht aufgrund des immer stärker privatisierten Gesundheitssektors sich zwar noch eine medizinische Grundbehandlung leisten, aber schwerwiegendere Eingriffe sind für sie zu teuer oder verlieren Bauer_innen durch die Privatisierung der Zuckerproduktion (vor der Privatisierung war die Türkei der wichtigste Zuckerexporteur im mittleren Osten) zusehends ihre Arbeit.
Die innenpolitische Lage spitzt sich ebenfalls immer weiter zu. Seit dem Putschversuch liegt das ganze juristische System in den Händen der AKP. Die Repression gegen Kurd_innen, Frauen und LGTBQI+ Personen wird von Tag zu Tag stärker. Professor_innen, Dozent_innen, Student_innen, die sich kritisch über die Regierung an ihren Universitäten äussern, werden unverzüglich rausgeschmissen. Jede kritische Stimme muss mit einer Strafuntersuchung rechnen. Dass die Türkei ein faschistoider Staat ist, sei, gemäss Aydin, nicht mehr von der Hand zu weisen.
Auch der Traum Erdogans vom Wiederbeleben des osmanischen Reichs ist fehlgeschlagen. Die Invasion in Libyen ist gescheitert, auch in Syrien konnte er die anfänglich angezielten Pläne nicht umsetzen. Da Erdogan in keinem Bereich (mehr) Erfolg hat, zeichnet sich sein Abgang ab. Mit dem Niedergang Erdogans ist es umso wichtiger, sich anzuschauen, wie die die die Linke in der Türkei heute aufgestellt ist. Wir haben Aydin gefragt, welche Widerstandsbewegungen momentan aktiv sind und welche eine revolutionäre Perspektive bieten.
Die Frauen an der Front
Für Aydin stellt die Frauenbewegung den wichtigsten Widerstand in der Türkei dar. Die Frauenbewegung sei sehr gut organisiert und finde bei vielen Frauen Anklang, weil die Politik der AKP besonders das Leben der Frauen erschwert. Femizide und misogynes Verhalten wird durch die AKP ständig begünstigt. Männer, die einen Femizid begehen, müssen jeweils, wenn überhaupt, mit kurzen Haftstrafen rechnen. Zudem hat Erdogan im März den Austritt aus der Istanbuler Konvention (die Frauen und Mädchen vor sexualisierter und häuslicher Gewalt juristisch schützt) beschlossen. Obwohl die Repression bei Demonstrationen und Kundgebungen enorm ist, lassen sich die Frauen nicht einschüchtern und gehen immer wieder zu Tausenden auf die Strasse. Auch in anderen Widerstandskämpfen (an den Universitäten oder im ökologischen Widerstand) stehen die Frauen oft an der Spitze. Sie organisieren Sitzungen und planen Demonstrationen, denn für sie ist klar, dass es so nicht weiter gehen kann.
Kurdinnen und Kurden, die in der Türkei leben, sind gemäss Aydin vor allem auf die Geschehnisse in Rojava konzentriert. Für sie ist nicht nur der Widerstand im Landesinneren, sondern sind alle Kämpfe im Mittleren Osten von grosser Bedeutung. Die Repression gegen die HDP (Halklarin Demokratik Partisi), eine linke, feministische und prokurdische Partei, ist sehr gross. Es wurden 56 gewählte Stadtpräsident_innen in kurdischen Gebieten von ihrem Amt enthoben, weil sie angeblich mit der PKK in Verbindung stehen. Das bringt die Menschen allerdings nicht auf die Strasse, sondern eher, wenn es Angriffe gegen Rojava gibt. In nur noch zwei Städten gibt es noch HDP Präsidenten. Alle wichtige Vertreter_innen sind momentan im Gefängnis.
Eine Bewegung in der Türkei, der hier in Europa kaum Beachtung geschenkt wird, ist der ökologische Widerstand. Durch die Privatisierung der Landwirtschaft ist es möglich, dass beispielsweise Wasserkraftwerke aufgestellt werden. Dafür werden Fliessgewässer zur Stromerzeugung gestaut. Diese Anlagen produzieren Strom und zerstören dabei die Natur, indem Bäche vollständig trockengelegt werden. Die umweltschädigende Wirtschaft betrifft besonders Bewohner_innen, die auf dem Land leben. Sie spüren die Folgen der Zerstörung am eigenen Leibe, da sie schlicht keine Landwirtschaft mehr betreiben können. Deswegen gibt es momentan an über 80 Orten Aufstände, z.B. Waldbesetzungen, um Rodungen zu verhindern. Besonders im Gebiet des Schwarzen Meers laufen viele Protestaktionen. Diese Menschen positionieren sich klar gegen die AKP und auch gegen Sozialdemokrat_innen und die «Mitte», weil sie ihnen auch keine Alternative bieten können.
The kids are all right
Ähnlich wie die ökologische Bewegung positioniert sich die Jugendbewegung. Die Jugend in der Türkei sieht sich mit einer Perspektivlosigkeit konfrontiert. Denn auch im Bildungswesen ist die Privatisierung stark spürbar. Es gibt zwar öffentliche Schulen, aber deren Schulniveau ist sehr schlecht. Das liegt unter anderem daran, dass die Klassen immer grösser werden (bis zu 50 Schüler_innen pro Klasse) und anstatt richtiger Schulfächer unterrichten die Lehrpersonen Lehren aus dem Koran. Wer es sich leisten kann, schickt seine Kinder ab der Primarstufe auf eine Privatschule. Nur an einer Privatschule ist eine gute Ausbildung möglich. Schüler_innen, die sich keine Privatschule leisten können, protestieren daher gegen Erdogan und seine Regierung, weil deren politisches Programm ihnen keine Zukunft bieten kann. Sie sagen, dass sie Erdogan zwar nicht mehr wollen, aber setzen sich auch nicht für eine linke Alternative ein. In Gymnasien sieht das anders aus, dort organisieren sich junge Menschen in sozialistischen Gruppen, denn man wird im Gegensatz zu den Unis nicht gleich von der Schule geworfen.
Bei immer mehr jungen Menschen stossen sozialistische Ideen auf Anklang. Das bedeutet aber nicht, dass die Frauen-, Ökologie und Jugendbewegungen revolutionäre Ziele verfolgen. Die Jugendproteste in der Türkei richten sich zwar klar gegen die Politik Erdogans, sie deswegen als links einzuordnen, wäre jedoch zu weit gegriffen. Es sind aber in all diesen Bewegungen revolutionäre Tendenzen zu beobachten.
Aufgrund der Krise der AKP und Erdogans muss sich die Linke in der Türkei auf die Zeit danach vorbereiten. Gemäss Aydin wird es sozialistischen Organisationen und Parteien nach der Zeit Erdogan «einfacher» gelingen, ihre revolutionäre Perspektive zu vermitteln. Momentan stellen viele der sozialistischen Parteien und Organisationen ihre eigenen Forderungen zurück und rücken Themen wie die Pressefreiheit, die Freiheit der Frau und Laizismus in den Fokus. Das bedeutet auf keinen Fall, dass sie ihre Ideale aufgegeben haben, ihre klassenkämpferischen Forderungen werden sie in zwei Jahren wieder medial streuen und für eine revolutionäre Perspektive kämpfen.