Ukraine: Nicht ob, sondern wann.

Kurz vor Jahreswechsel erhöht sich schlagartig die Kriegsgefahr zwischen der NATO und Russland um die Ukraine. Die Eskalation ist lange angelegt: In den ukrainischen Maidan-Protesten von 2013/14, aber vor allem auch in der postsowjetischen Ordnung ab Beginn der 1990er-Jahre. Der Zeitpunkt widerspiegelt globale Krisen und Neuordnungen.

(gpw) Das Rauschen im bürgerlichen Blätterwald ist eindeutig: Russland trägt die alleinige Verantwortung für die angedrohte Eskalation rund um die Ukraine. Mittels Truppenverlegungen an die russisch-ukrainische Grenze sowie ultimativ vorgebrachter Forderungen gegenüber den USA schafft der russische Präsident Vladimir Putin eine Situation, in der das Militärbündnis NATO nicht anders kann, als ihrerseits zur Kriegsvorbereitung zu blasen. In der Propaganda sind die Rollen klar verteilt, hier die Guten, dort die Bösen und entsprechend gilt es sich in der Front des Westens einzureihen.

Die Stimmen der Kriegsminister_innen täuschen darüber hinweg, dass die Dinge nicht so einfach sind, wie sie sie erscheinen lassen. Der gesamte Raum der vormaligen Sowjetunion (und des nochmals vormaligen Zarenreichs) ist durchzogen von einer Bruchlinie, auf deren Seiten jeweils eine Orientierung in Richtung US-Imperialismus und Europäische Union und eine in Richtung Russland gehen. Es ist eine Bruchlinie, die durch die oftmals multiethnischen Realitäten der postsowjetischen Staaten verstärkt wird sowie durch die jeweiligen gesellschaftlichen Versprechungen, die sowohl die Sowjetunion wie der Kapitalismus teilweise einhielt oder -hält. Dadurch gelten für unterschiedliche Generationen und Klassenstandpunkte jeweils unterschiedliche positive wie negative Bezugspunkte.

«Kein Zentimeter nach Osten»

In der Leseart der westlichen Propagandist_innen ist die aktuelle Forderung Russland’s, dass keine weiteren Staaten der ehemaligen Sowjetunion der NATO beitreten mögen, irre. Die Forderung mag nicht schmecken, doch sie ist weder neu noch ohne Grund. Vor rund dreissig Jahren wurde sie erstmals formuliert. Damals, als nach dem Ende der Sowjetunion eine neue weltpolitische Ordnung geschaffen wurde, ging es auch um den Rückbau der militärischen Allianzen, die im Zuge des Kalten Kriegs entstanden waren, und den Ausbau gemeinsamer und weniger gewaltaffiner Gremien (wie der OSZE). Während der «Warschauer Pakt» als militärische Allianz auf Seiten der Sowjetunion aufgelöst wurde, wurde eine Auflösung der NATO von den sich siegreich wähnenden westlichen Imperialist_innen kaum in Betracht gezogen.

Es gab allerdings sehr wohl mündliche Zusagen hochrangiger Politiker, wonach die NATO nicht weiter in Richtung Russland expandieren werde. Die US-Aussenminister erzählten 1990 dem Generalsekretär der KPdSU, Michail Gorbatschow, dass die NATO sich «keinen Zentimeter nach Osten» erweitern werde, und wiederholten 1993 ähnliches gegenüber dem neuen russischen Präsidenten Boris Jelzin; der BRD-Aussenminister Hans-Dietrich Genscher versprach 1990 in einer programmatischen Rede im Laufe des DDR-Anschlusses sinngemäss dasselbe. Angesichts dieser Vorgeschichte gilt es zumindest festzuhalten, dass die roten Linien nicht einseitig überschritten werden bzw. sie offenkundig – je nach Interessen, Kräfteverhältnis und Grosswetterlage – ihren Verlauf ändern können.

Vom Maidan zum Guerillakrieg

Ein entscheidender Moment in der Neuziehung dieser Linien sind die Maidan-Proteste von 2013/14 in der Ukraine. An deren Ende stand der Sturz des Präsidenten Viktor Janukowitsch und die Installation einer Regierung unter Petro Poroschenko, welche sich klar in Richtung USA und Europa orientierte (und sich dabei unverhohlen auf faschistische Paramilitärs wie dem «Asow-Bataillon» stützte). Danach folgte durch Russland die Aneignung der Krim (inklusive dem russischen Flottenstützpunkt Sewastopol am Schwarzen Meer) und die Unterstützung der Volksrepubliken in der Ostukraine (inklusive einer überwiegend russischen Bevölkerung, die die Vorgänge in Kiev nicht stützte). Ein Schlagabtausch der Grossmächte im Ringen um Einflusssphären, welcher eigentlich nur jene überraschen mag, die der Mär vom «Ende der Geschichte» aufgesessen waren und verkannten, wie insbesondere der US-Imperialismus nach 1989 nahtlos weiter um Expansion in nun «freigewordene» Gebiete kämpfte.

Das angespannte Gleichgewicht verschob sich und führte zu einer neuen Pattsituation, die seither im Wesentlichen anhielt. Es gibt wohl verschiedene Gründe, weshalb sich dies nun verändert. Auf Seiten der NATO-Kräfte gibt es wenig Einheit bezüglich der strategischen Priorität der Ukraine (unter anderem wegen der von den USA focierten Ausrichtung gegenüber der Volksrepublik China sowie der deutschen Abhängigkeit von Erdgas aus Russland) und entsprechend Spielraum für Russland, in dieser Konfusion neue Tatsachen zu schaffen. Umgekehrt ist die Lage in der russischen Einflusssphäre gegenwärtig unruhig. Proteste wie in Kasachstan, die militärisch niedergeschlagen werden, stützen sich auf populären Unmut gegenüber den Herrschenden in den postsowjetischen Staaten, die sich in kleptokratisch-kapitalistischer Manier einrichteten und entsprechend handeln.

Ende Januar und parallel zu den verschiedenen Gesprächsrunden wird das Kriegsgeflüster nochmals lauter, es scheint angesichts von Verlautbarungen und Handlungen der NATO eher eine Frage des Wanns denn des Obs einer militärischen Eskalation zu sein. Ukrainische Militärkreise selber gehen derweil weder von einem baldigen noch von einem grossangelegten Krieg aus. Im Wissen um die Widersprüche in der NATO fordern solche Stimmen – wie der vormalige Verteidigungsminister Andriy Zago-rodnyuk-Waffen, welche einen asymmetrischen Krieg stützen würden, der von regulären militärischen Truppen wie von den irregulären Paramilitärs der ukrainischen Nationalgarde geführt werden könnte – Faschisten inklusive.

Aus aufbau 108 (Mitte Februar 2022)