Gesundheitswesen: Schlimmer als nichts tun

Der bürgerliche Staat lässt die Angestellten im Gesundheitsbereich in den Wellen stehen. Weder Bonis noch Ausbildungsoffensiven täuschen über die fundamentalen Schwierigkeiten des staatliches Handelns im am meisten geforderten öffentlichen Bereich der letzten Jahre hinweg.

(az) Die Coronapandemie hat massive staatliche Eingriffe in die kapitalistische Produktion mit sich gebracht – Schliessungen, verordnete Schutzmassnahmen oder Hilfsprogramme. Der Staat hat auch erheblich in den reproduktiven Sektor, vor allem ins Gesundheitswesen eingegriffen. Dies hat logischerweise auch Konsequenzen für die Angestellten in diesem Bereich. Oft wird kritisiert, der Staat habe nichts getan. Das stimmt nicht ganz. Der Staat hat zwar praktisch nichts für das Personal getan, doch sehr wohl gehandelt. Welche Massnahmen wurden ergriffen? Eine Auslegeordnung:

Aussetzung Ruheregelungen

Eine der ersten staatlichen Reaktionen im Frühling 2020 war die Aussetzung der Arbeitsund Ruhezeitenregelungen für das Gesundheitspersonal: Eine Blankovollmacht für die Spitäler. Diese erste Reaktion kann noch mit der grossen Unsicherheit in Bezug auf die medizinische Situation erklärt werden. In den ersten Monaten war noch Vieles aussergewöhnlich: Die Bevölkerung klatschte und sang auf den Balkonen, Masken wurden nicht empfohlen, weil nicht verfügbar, die Polizei patrouillierte im öffentlichen Raum noch intensiver auf der Suche nach Menschenansammlungen von mehr als fünf Personen. Der damalige Entscheid des Bundesrates hatte trotzdem Symbolkraft: Mit den gleichen Vollmachten hätten auch Massnahmen zu Gunsten des Personals eingeführt werden können.

Auch keine Zückerchen fürs Personal

Ab dem Sommer 2020 kamen erste Forderungen nach Boni fürs Gesundheitspersonal auf. Diese flossen in einigen Kantonen in die Budgetdebatten Ende Jahr ein. Im Kanton Waadt wurden diese bewilligt, die Kosten für diese Prämien belaufen sich auf ca. 15 Mio. Franken. In der Stadt Zürich wurden rund 5 Millionen für besonders betroffenes Personal gesprochen. Im Frühjahr 2021 sprach auch der Kanton Basel Stadt 5 Millionen. Auch in Schaffhausen und Freiburg wurden knausrig ausgestattete Boni gesprochen.

Im Kanton Zürich zeigte sich der Staat und sein parlamentarischer Zirkus von seiner «besten» Seite. Sowohl SP, AL und EVP, wie auch die SVP reichten je einen Antrag ein. Während sogar die SVP Angestellten mit weniger als 75’000 Fr. Jahreslohn je 500 Fr. in «Naturalgeschenken» überreichen wollte, wollte der reformistische Vorschlag 0,2% der Lohnsumme, rund 9 Mio. Fr. sprechen. Beide Anträge wurden deutlich abgelehnt. Das ist angesichts der politischen Machtverhältnisse im Kanton nicht überraschend. Interessant und besonders zynisch waren hingegen die Argumente, mit denen die Anträge abgelehnt wurden. Diese gleichen sich über alle Debatten in den Kantonen und Städten hinweg und verdeutlichen einmal mehr, mit welchen Techniken der Staat Verbesserungen für das Gesundheitspersonal verhindert.

Die rechten Parteien entdeckten zum Beispiel plötzlich die Gerechtigkeit für sich: So sei es ungerecht, die Leistungen des Gesundheitspersonal zu honorieren, während andere Berufsgruppen mit aussergewöhnlichen Leistungen nicht berücksichtigt würden. Das Gesundheitspersonal hätte eine Job-Garantie, während andere um ihre Anstellung fürchten müssten, das sei Belohnung genug. Des Weiteren – und da bestätigt sich der Auslagerungsund Privatisierungswahnsinn selbst – seien die Kantone und Gemeinden in den meisten Fällen gar nicht Arbeitgeber_innen des Gesundheitspersonals und hätten somit gar nicht die Befugnis und Verantwortung um Boni zu zahlen.

Eine andere Argumentation beklagte, dass es für solche Boni keine rechtliche Grundlage gäbe. Das sahen sogar die Grünen im Zürcher Kantonsrat so und lehnten den Antrag von SP, AL und EVP ab. Dass der Kantonsrat als legislatives Organ mit Budgethoheit eine solche Grundlage durchaus schaffen könnte, versteht sich von selbst. Der Regierungsrat scheint es in anderen Fällen mit den gesetzlichen Grundlagen nicht so ernst zu nehmen, das zeigte er jüngst bei der Verrechnung von Spitalkosten an die Heimatkantone von in Zürich behandelten Covid-Patient_innen. Dort liess er die Spitäler im Glauben, es sei rechtens Rechnungen an andere Kantone zu stellen.

Private profitieren

Boni ans Personal wurden also kaum ausbezahlt. Doch wurde durchaus sehr viel Geld ausgegeben. Dieses ging im Kanton Zürich beispielweise wenig überraschend an private Gesundheitsfirmen. Vom Impfen über Testzentren, Pooltesting und Labore bis hin zum Contact Tracing – die rationalisierbaren und somit relativ «rentablen» Tätigkeiten wurden zu einem grossen Anteil in die Hände von Privaten gegeben, während die öffentlichen Spitäler die Knochenarbeit der Behandlung stemmen müssen, Wahleingriffe aussetzen und danach wieder aufholen müssen. Damit setzt sich der Trend zur Privatisierung im Gesundheitswesen fort und wird durch die marktwirtschaftliche Vergabe von medizinischen Dienstleistungen noch verstärkt.

Pflegeinitiative

Schon 2017 eingereicht, wurde die Pflegeinitiative zum Hoffnungsschimmer für den medizinischen Bereich. Mit unzähligen getragenen Buttons symbolisierten die Angestellten ihre Unterstützung. In einigen Spitälern verbot die Direktion daraufhin das Tragen von Buttons. Auch in der Bevölkerung hatte das Anliegen viele Sympathien und wurde schliesslich mitten in der Delta-Welle mit einem hohen Anteil Ja-Stimmen angenommen. Die Initiative forderte eine verstärkte Ausbildung, eine bessere Abrechenbarkeit von Pflegeleistungen und eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen. Nach der Annahme muss der Bundesrat nun Vorschläge zur Umsetzung einbringen. Dieser nutzte schon bei der Initiative den Spielraum, um einen zahnlosen Gegenvorschlag zu präsentieren, der die Anstellungsbedingungen aussen vorliess und für Pflegeleistungen eine Kostenbremse einführen wollte. Anfang Januar kam dann der bundesrätliche Vorschlag zum weiteren Vorgehen: Die Ausbildungsoffensive sollte, wie auch im Gegenvorschlag schon vorgesehen, unverzüglich angegangen werden. Dies erstaunt, nachdem der Bundesrat im Abstimmungskampf betonte, mit Annahme der Initiative dauere die Umsetzung viel länger. Die Arbeitsbedingungen und die Abgeltung von Pflegeleistungen hingegen werden auf die lange Bank geschoben, weil zuerst die «Verantwortlichkeiten» geklärt werden müssen.

Klare Aufteilung, aber keine Verantwortlichkeit

Verantwortlichkeiten sind ein wichtiges Stichwort: Gesundheitspolitik ist eigentlich Kantonssache. Die Kantone haben in der Regel eigene Spitäler inklusive Personal, sie legen in der Spitalliste fest, wer welche Eingriffe anbieten darf und die Arbeitsbedingungen des Personals ist auch in ausgelagerten und privaten Spitälern eine Referenz, obwohl diesen gerne von den Kantonen die Verantwortung für die Anstellungsbedingungen zugeschoben wird.

Der Bund legt hingegen Gesetze für die Finanzierung fest und definiert in der Bildungspolitik Fragen des Nachwuchses. Kantone und Bund schieben sich nicht nur in Fragen der Schutzmassnahmen die Verantwortung hin und her, sondern auch in Bezug auf die Anstellungsbedingungen des Personals. Während des Abstimmungskampfes zur Pflegeinitiative berechnete der Verband der Pflegenden SBK, dass während der Corona-Pandemie schon 10 bis 15% des Personals auf den besonders beanspruchten Abteilungen den Beruf gewechselt hatte, weil die Arbeitsbedingungen krank machten und nicht mehr auszuhalten seien. Das hatte und hat logischerweise auch Auswirkungen auf die Anzahl Intensivpflegeplätze in den Spitälern. Der Bund möchte nun die Fallpauschale einer Covid-Intensivbetreuung erhöhen, um finanzielle Anreize für die Spitäler zu schaffen ihre Intensivplätze zu erhöhen. Mehr nicht. Ein Hohn für alle Angestellten.

Auf dem Weg in die Klassenmedizin

Die Covid-Krise ist also nicht nur eine medizinische Krise sondern im medizinischen Bereich auch eine Krise des staatlichen Handelns, weil auch das staatliche Handeln die gesellschaftliche Reproduktion gefährdet. Die Konsequenzen dieses Handelns bekommen nicht nur die Angestellten zu spüren, sondern sie werden sich mittelfristig auch in der Behandlungsqualität für die Bevölkerung widerspiegeln. Der Personalmangel soll sich laut einer Studie des Pflegeverbandes SBK weiter zuspitzen, so dass 2030 rund 70’000 Angestellte fehlen. Fehlendes und falsches staatliches Handeln in Bezug auf die Arbeitsbedingungen der Angestellten ist demnach auch die Grundlage für die Knappheit der medizinischen Versorgung. Diese Knappheit wird wiederum den Klassencharakter der Medizin verstärken, weil vermögende Personen dann fehlende öffentliche Versorgungen mit privaten Dienstleistungen kompensieren.

Diese Auslegeordnung verdeutlicht auch, wie politisch gewollt die Situation der Angestellten im medizinischen Bereich ist. Einzelne betriebliche Kämpfe können die Arbeitsbedingungen punktuell verbessern, Gesamtarbeitsverträge können auch über Spitäler hinweg Standards setzen, doch die Zuständigkeiten sind so verknüpft miteinander, dass es auch nüchtern betrachtet nicht ohne einen fundamentalen Umbau, ohne Care-Revolution geht.