Velo-Lieferdienste: «Wie kann man sich organisieren, wenn man sich nie sieht?»

Daniel (Name geändert) arbeitet bei Just Eat, dem bekannten Velo-Lieferdienst mit den Fahrer_innen in orangen Jacken. Wir haben uns über Arbeitsbedingungen und das Potential von Arbeitskämpfen in der Gig-Ökonomie unterhalten. Vorwegnehmen wollen wir, wie die Zürcher Fahrer_innen unterstützt werden können: Mit internationalen Kontakten.

(az) Hallo Daniel, du arbeitest bei Just Eat. Wie sehen Deine Arbeitsbedingungen aus und wie sind diese im Vergleich mit der Branche zu verorten?

Daniel: Man muss die Arbeitsverhältnisse abgrenzen zu Uber-Fahrer_innen, welche als scheinselbständig gelten und das betriebliche Risiko selbst tragen. Wir sind im Stundenlohn angestellt und erhalten auftragsunabhängig 22 Franken pro Stunde. Normalerweise fährst du zehn Stunden pro Woche, diese werden aufgeteilt in drei kleinere Schichten. Dann kannst du dich um eine Verdoppelung oder eine Verdreifachung der Stunden bewerben. Das erhalten aber die wenigsten, auch jene nicht, die das gerne würden. Für diese höheren Pensen gibt es lange Wartelisten und ein internes Wertungssystem, welches aussagt, ob du dich in der Vergangenheit bewährt hast oder nicht. Die meisten sind nebenbei noch anderswo arbeitstätig oder bestreiten noch ein Studium. Bei Veloblitz oder Ultra sind die Arbeitsbedingungen in den Essenslieferungen meines Wissens ähnlich. Bei den Kurier_innen von Just Eat ist aber das Selbstverständnis ein anderes, viele Leute fahren mit schlechten Elektrovelos, deren Akkus kaum für eine ganze Schicht ausreicht. Die Identifikation mit dem Kurierfahren oder dem Velo an sich ist tiefer. Es geht um die Notwendigkeit der Lohnarbeit. Es ist aber auch nicht so, dass bei Veloblitz die höhere Identifikation mit dem Velokurier_in-Dasein automatisch zu besseren Löhnen führen würde.

Kannst Du etwas zum Unternehmen von Just Eat sagen?

Daniel: Just Eat ist mittlerweile ein sehr grosser Konzern mit Zentrale in Holland, der in die ganze Welt expandiert hat. Es gibt eine Österreich-DeutschlandSchweiz-Region. In der Schweiz ist das eher neuer, früher gab es noch Notime und andere Dienste, Just Eat hat sich aber mittlerweile praktisch eine Monopolstellung gesichert. Dadurch hat Just Eat nicht nur seinen Angestellten gegenüber Macht, sondern auch gegenüber Restaurants. Viele Restaurants können es sich kaum erlauben, nicht mit Just Eat zusammenzuarbeiten, weil viele Menschen scheinbar nur noch so die Existenz dieser Restaurants mitkriegen. Wir haben wenig zu tun mit Manager_innen oder leitenden Angestellten. Doch es gibt eine Art interne Hierarchie, in der die Kurier_innen auf der untersten Ebene stehen. Darüber befinden sich die Kurier_innen mit besonderem Vertrauensstatus, die sogenannten Driver-Captains. Jene haben eine Art Weisungsgewalt, dürfen massregeln und das Wertungssystem der Kurier_innen mitbeeinflussen. Sie fahren auch als Kurier_innen. So gibt es mehrere Stufen, mitunter auch Büroangestellte in Zürich. Erst darüber kommt dann so etwas wie eine Personalabteilung oder ein Chef. Das funktioniert alles per Mail.

Gibt es etwas wie einen Gesamtarbeitsvertrag (GAV) der Branche?

Daniel: Das gibt es nicht. Es gibt seit einigen Monaten ein Treffen mit der Gewerkschaft Syndicom. Die Forderung nach einem branchenweiten GAV besteht. Die Gruppe, die sich mit der Syndicom trifft, ist aus der Just Eat-Belegschaft in Zürich entstanden. Der Anstoss zu der Gründung dieser Gruppe (Just Eat Workers Collective) war ein Chaos bei der Auszahlung von Feriengeldern. Das Unternehmen hat die Ferien doppelt ausbezahlt und im Nachhinein wieder Rückforderungen gestellt. Für manche Fahrer_innen bedeutete dies bis zu CHF 2’000 Franken Lohnabzug. Das gab Unmut und die Bereitschaft, mit der Gewerkschaft zusammenzusitzen, damit der Feriengeldzuschlag in den regulären Lohn integriert wird. Es gibt viele andere Missstände, etwa die fehlende Belegschaftskommission. Bis anhin erfahren wir Änderungen von neuen Regelungen über diffuse Wege von WhatsappChats, etwa die Zusammenlegung der Gebiete ZürichNord und Zürich-City. Letzteres bewirkte, dass du an Tagen sechsmal über den Bucheggplatz fahren musst und eine unbezahlte Heimfahrt von über einer halben Stunde noch dazukommt.

Du hast im Vorgespräch von rund 200 Fahrer_innen gesprochen, die sich untereinander selten sehen und unterschiedlichste Arbeitszeiten haben. Wie kann man sich organisieren, wenn man sich nie sieht?

Daniel: Wir versuchen, die Sitzungen von unserem «Workers Collective» frühzeitig anzukündigen, damit alle ihre Schichten entsprechend legen können. Aber es fehlt natürlich der Ort des informellen Austausches unter den Angestellten. Es gibt grosse Chats, welche das Unternehmen zur Kommunikation benutzt. Wir versuchen darin, für gewerkschaftliche Forderungen zu agitieren und auf uns aufmerksam zu machen. Manchmal gibt es dann Diskussionen. Die Vertrauensleute der Unternehmensleitung werfen dann jeweils die Leute aus den Chats raus. Das ist ein ungünstiges Terrain, aber eines das wir haben.

Fahrrad-Kämpfe gibt es europaweit, häufig finden diese nicht mit traditionellen Gewerkschaften statt, sondern kleiner und improvisierter. Es gibt fast eine eigene Kampf-Kultur. Gibt es eine Vernetzung, national, international?

Daniel: Das gibt es wenig. Ich fände das aber wichtig, um an Kraft zu gewinnen – nur schon innerhalb von Just Eat. Denn es gab immer wieder Kämpfe bei Just Eat. Wir schaffen es aber nicht, uns aktiv mit diesen auseinanderzusetzen. Ich teile aber deine Einschätzung einer eigenen Kampf-Kultur der Kurier_innen. Man weiss, dass es Kämpfe gibt, in der Westschweiz aber auch in Europa. Das Bewusstsein ist da, dass man seine Bedingungen mitgestalten kann und muss. Das ist eine gute Voraussetzung.

Wenn es in diesem Bereich Kämpfe gibt, dann sind diese auch dadurch interessant, weil sie milieuverbindend sind und somit die Schnittflächen von Kämpfen vergrössern. Es kommen – sehr salopp gesagt – politisierte Studierende mit proletarisierten Menschen zusammen. Beide Milieus haben zumeist ihre eigenen Kampferfahrungen in unterschiedlichen Bereichen.

Gibt es hierbei auch unterschiedliche Interessen oder eine besondere Dynamik?

Daniel: Bis jetzt findet noch zu wenig Kampfdynamik statt, als dass man darüber etwas sagen kann. Tatsächlich gibt es diese verschiedenen Milieus und dementsprechend unterschiedliche Interessen. Ich würde sagen, dass die Hälfte der Belegschaft aus Studierenden besteht, die das als Nebenjob machen. Die andere Hälfte besteht aus Menschen, die noch ein bis zwei andere Jobs in der Reinigung haben und damit eine Familie ernähren müssen. Viele von ihnen sind migrantisch und zwingend auf den Job angewiesen. Das ist eine spannende Zusammensetzung der Belegschaft.

Was sind die nächsten Schritte?

Daniel: Abgesehen von der Vernetzung mit anderen Belegschaften in der Schweiz und Europa muss es natürlich darum gehen, zuerst zu einer Kampfkraft zu finden. Eine solche ist aktuell noch nicht gegeben. Gegenwärtig sind wir eine einfache Beute aller möglichen Repressionen. Eine der ersten Aktionen bestand in grossen Aufklebern auf den Rucksäcken, welche einforderten, dass der Konzern unsere Rechte respektieren soll. Die lokale Unternehmensleitung hat fast panisch reagiert und in den Chats Drohungen ausgesprochen. Es wurden dann auch die Driver-Captains losgeschickt, um die Kleber zu entfernen. Ausserdem gab es Verwarnungen. Dabei ging es kaum um eine radikale Forderung. Nun, momentan geht es darum, innerhalb der Belegschaft einen Bekanntheitsgrad zu erlangen und mehr Personen in das Kollektiv zu holen.

Als Kommunist_innen wollen wir in Kämpfen von aussen intervenieren, ohne der Belegschaft den Kampf wegzunehmen. Letzteres kennen wir nämlich aus reichlicher Erfahrung mit Gewerkschaftsführungen. Natürlich wollen wir politisch orientierend wirken, gleichzeitig aber unterstützend eingreifen. Wie kann ein Kampf von aussen unterstützt werden, also von Menschen die nicht als Velokurier_in und auch nicht bei Just Eat arbeiten? Wäre eine Critical Mass ein Anknüpfungspunkt in Zürich?

Daniel: Wenn Kontakte bekannt sind, um uns mit anderen kämpferischen Kolleg_innen der Velokurierbranche international bekannt zu machen, dann wäre das hilfreich. Denn unsere Ressourcen sind halt beschränkt. Über die Critical Mass weiss ich zu wenig. Es gehen immer wieder Leute dahin, um Flyer für die Interessen der arbeitenden Velofahrer_innen zu verteilen. Persönlich finde ich es spannender, im Hinblick auf den «Strike for Future» andere Basisgruppen wie die Trotzphase und deren Erfahrungen kennenzulernen. Da besteht eine gemeinsame Linie entlang der Anstellungsverhältnisse und nicht nur des Fortbewegungsmittels.

aus aufbau 109