Mit Lehrkräftemangel zu mehr Tagesschule?

Zürich leistet sich Paradoxes: Die Stadt will mit der Tagesschule das Betreuungs- und Bildungsangebot an den Schulen ausbauen, gleichzeitig findet sie keine Lehrkräfte.

(az) Man könnte meinen, man lebe in zwei unterschiedlichen Zeiten. Im August berichtet die NZZ besorgt, dass der Lehrpersonen-Mangel nun schon so akut ist, dass unsere Kinder nun von «Bankern im Klassenzimmer» unterrichtet werden. Dabei wird die NZZ kaum ein Problem damit haben, dass ein Finanzkapitalist unseren Kindern die spannende Perspektive eine Homo Oeconomicus näherbringt, sondern vielmehr mit dem Fakt, dass der Kanton Zürich seit diesem Schuljahr Leute als Lehrpersonen einstellt, die kein Lehrdiplom vorweisen können. Die Berufsverbände schlagen seit Jahren Alarm, dass es aufgrund steigender Kinderanzahl zu einem akuten Lehrpersonen-Mangel kommt, wenn die Politik die Ausbildungs- und Arbeitsbedingungen für das Lehrpersonal nicht verbessert. Der Kanton Zürich hat ignoriert und zehn Wochen vor Schulstart, als noch immer rund 500 Lehrpersonen-Stellen unbesetzt waren, hat er einfach 330 pädagogisch unausgebildete Personen als Lehrkräfte in die Schulzimmer gestellt. Diese sollen jetzt mit einer Schnellbleiche nachträglich noch eine Lehr-Ausbildung erhalten.

Diese Ignoranz gegenüber dem Berufsstand, der unbedingte Wille, möglichst billig an Arbeitskräfte zu kommen, und die Bereitschaft, damit die Arbeitsqualität zu senken, haben System. Das gleiche Muster findet sich bei den Kindertagesstätten und in der Pflege. Auch dort verlassen Betreuende und Pflegende ihren Beruf, weil die Löhne und Arbeitsbedingungen nicht verbessert werden. Und auch bei der Pflege stand die staatliche Sparpolitik dann – gerade in der Pandemie – vor einem gefährlichen Personalmangel, der letztlich wieder die Kosten der Gesundheit der noch verbleibenden Pflegenden ging.

Mehr für weniger

Und was steht am 25. September – also nur einen Monat später – an? Obwohl in den nächsten Jahren dieses Gewitter eines Lehrkräfte-Mangels am Horizont des Bildungssystems aufzieht, lässt der Zürcher Stadtrat über das Projekt Tagesschule 2025 abstimmen, das einen Ausbau der Bildungs- und Betreuungsanforderungen für die Angestellten an den Schulen bedeutet. Und so wie das Projekt Tagesschule aktuell politisch diskutiert wird, reiht es sich in das Bild einer Krise der sozialen Reproduktion ein, wie sie vorher schon bei den KiTas und dann in der Pflege sichtbar wurde. Das Bürgertum ist sich zwar bewusst, dass es mehr Reproduktionsarbeit braucht, gleichzeitig soll diese aber möglichst billig sein – und das geht nur auf Kosten der Qualität für proletarische Kinder und der Arbeitsbedingungen der Angestellten.

Die Abstimmungsvorlage offenbart dabei aber auch starke Interessens-Unterschiede zwischen dem linkem und dem rechten Bürgertum. So hat der Stadtrat zum Mittel der Doppelvorlage gegriffen und lässt über zwei konkurrierende Verordnungen abstimmen. Die Vorlage des Stadtrats und der Schulpflege macht den neoliberalen Charakter des Projekts unmissverständlich klar, wird sie doch als «Tagesschule light» betitelt und ironischerweise von einer FPD-Schulleiterin namens Yasmin Bourgeois mit dem Argument beworben, dass es für die Kinder über Mittag gar kein teures pädagogisches Programm brauche. Dieser gegenüber steht nun eine vom Gemeinderat stark veränderte Vorlage, die wie schon in der aufbau-Ausgabe 109 kurz erläutert wurde. In dieser Gemeinderatsvorlage werden zwei wesentliche Interessengruppen sichtbar. Die Vorlage geht vor allem quantitativ viel weiter als die Tagesschule light. So wird mit der zweiten Vorlage das Projekt mit 126 Millionen pro Jahr um ganze 51 Mio. teurer. Das empört Leute die Bourgeois natürlich, weil damit die Tagesschulen dann – man höre recht – «mehr kosten als das heutige Hortsystem». Hier zeigt sich, wie sehr das ursprüngliche Projekt als Sozialabbau bei den Horten konzipiert war.

Streiten sich zwei – verliert die Dritte

Aber diese finanziellen Zusatzkosten der zweiten Vorlage gehen nun nicht – wie man denken könnte – auf die Forderungen der Gewerkschaften und der Angestellten nach besseren Betreuungsschlüsseln oder den Schutz der Arbeitsbedingungen zurück, sondern auf Interessen einer sozialdemokratischen politischen Vision. Die Tagesschule wird vor allem teurer, weil damit das Betreuungs-Angebot zeitlich ausgeweitet wird und für die Eltern verbilligt wird. Das ist tatsächlich auch für proletarische Familien ein Vorteil und verbilligt für ärmere Familien die Mittagspreise nochmals. Aber die eigentliche sozialdemokratische Zielgruppe sind die besser verdienenden Schichten. Sie profitieren verhältnismässig am stärksten von den billigeren Tarifen der zweiten Vorlage und sie sind es auch, die aus Sicht der Avenir Suisse auf wertvollem weiblichem Humankapital hocken, das für die Wirtschaft freigesetzt werden soll.

Rechtes und linkes Bürgertum liegen sich also vor allem in den Haaren in der Frage, wie viel ihnen diese Arbeitsmarktpolitik wert sein soll. Und der Stadtrat stellt sich offensiv hinter die Vorlage, die eine Sozialabbau verspricht. Und wo bleiben die Interessen der Angestellten? Es ist symptomatisch, dass in diesem Streit um handfesten Zahlen die Forderungen der Angestellten nur unbeziffert in die zweite Vorlage aufgenommen werden. Während sonst um konkrete Kosten gestritten wird, landen nur vage Bekenntnisse zu hohem Anteil an qualifiziertem Personal und angemessenen Gruppengrössen in die zweite Verordnung. Die Hoffnungen des Personals werden damit auf die Ausformulierung der Ausführungsbestimmungen vertröstet. Aber es dürfte klar sein, dass es – falls die zweite Verordnung mit einem quantitativen Ausbau des Angebots angenommen würde – noch schwerer sein wird, nun noch weitere Gelder für den qualitativen Ausbau einzufordern. Mit der Ausweitung des Angebots durch die zweite Vorlage droht also lediglich die Arbeitshetze und -belastung der Betreuungs- und Bildungsarbeit noch ausgedehnt zu werden. So oder so bleiben Angestellten in den Schulen auf sich selbst gestellt und müssen auch nach dieser Abstimmung Kampfstrategien finden, wie sie Druck auf die Ausgestaltung der Ausführungsbestimmungen erzeugen können. Vielleicht bringt das kommende Gewitter eine notwendige Klärung.

aus: aufbau 110