Fussball im Kapitalismus – wessen Spiel wird hier gespielt?

(agkkz) Fussball ist ein globales Phänomen – überall auf der Welt wird das Spiel gerade von Menschen der unteren Klassen gespielt. Wie kein anderer Sport mobilisiert er die Massen. Millionen von Menschen strömen Wochenende für Wochenende in die Stadien dieser Welt. Der Fussball kann uns die Erfahrung von Zusammenhalt und Gemeinschaft bieten. Dinge, die der Kapitalismus uns verwehrt. Sport bietet uns die Möglichkeit, die oft bedrückenden Lebensverhältnisse im Kapitalismus für eine Weile hinter uns zu lassen. Sport unterstreicht einen sinnlichen, körperlichen Ausdruck und eine Kollektivität, die ansonsten wegen Fragmentierung und Atomisierung in der kapitalistischen Gesellschaft nicht vorhanden sind. Diese kollektiven Momente brachten mit den Ultras eine anhaltende Massenbewegung hervor, die das Erlebnis Fussball massgeblich prägen. Es geschehen Prozesse der Selbstorganisierung, der Selbstbestimmung und der Opposition gegen die Herrschenden, z.B. gegen Vereinsbosse, Sponsoren oder staatliche Reppressionsorgane. Fussball ist politisch und er brachte auch immer wieder Figuren hervor, welche die Liebe und den Respekt der Massen nicht nur durch sportliche Leistungen, sondern auch durch ihr politisches Handeln und Wirken errangen. Fussballer_innen, die ihre soziale Herkunft nie vergassen.

Doch der Fussball hat ein umkämpftes und widersprüchliches Wesen. Auch für reaktionäre Tendenzen bietet er Nährboden oder Anknüpfungspunkte. Schon früh versuchten die Herrschenden den Fussball für ihre Interessen zu nutzen und der Kapitalismus unterwarf ihn mehr und mehr seinen Zwängen und Gesetzmässigkeiten. Wie alles in diesem System wird auch der Sport zu einer Ware gemacht, aus der hohe Profite generiert werden. So verkam auch der Fussball mit der Zeit zu einer milliardenschweren Industrie. Heute zählen in der offiziellen Welt des Fussballs – im Gegensaz zur Welt der Fans – einzig die kalten Werte des Geldes. Teams, Athlet_innen und Fans werden als Produkte betrachtet, mit denen man handeln und in welche man investieren kann.

Kommerz und Nationalismus

«Du und dein Boss haben nichts gemeinsam bis auf das Deutschlandtrikot» (KIZ. Boom Boom Boom. In: Hurra die Welt geht unter. 2015.)

Grosse Sportanlässe generieren aber nicht nur Profit, sie können auch gesellschaftliche Widerspruchslinien verwischen. Gerade internationale Wettbewerbe eignen sich gut dazu, Klassenwidersprüche durch ein trügerisches Gefühl von «Gemeinschaft» zu ersetzen und zur Stärkung von Nationalismus zu nutzen. Das Einschwören auf eine Seite erweckt die Illusion, dass geteilter Heimatstolz oder Patriotismus gemeinsame Interessen herstellen könnten. Der Feind stehe nicht oben, sondern in den Fanrängen des anderen Teams. So werden Rivalitäten geschaffen und Spaltungen unter Lohnabhängigen gefördert, um uns von unseren miesen Arbeits- und Lebensverhältnissen und unseren tatsächlichen, gemeinsamen Interessen abzulenken und so einfacher auszubeuten.

Im grossen Stil kamen nationale Sportereignisse und internationale Wettkämpfe gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts und im Vorfeld des ersten imperialistischen Krieges auf. In der Zwischenkriegszeit entdeckten dann die faschistischen Diktatoren Sportgrossveranstaltungen als nützliche Propagandamittel. Schon die zweite Fussballweltmeisterschaft im faschistischen Italien wurde von Mussolini zur Selbstinszenierung missbraucht und der Fussball in den Dienst von Rassismus und Nationalismus gestellt. Daran knüpfte der deutsche Nationalsozialismus kurz darauf mit der Ausrichtung der Olympischen Sommerspiele von 1936 an.

Imperialismus

«Mohun Bagan ist keine Fussballmannschaft. Es ist ein unterdrücktes Land, das im Staub liegt und gerade seinen Kopf zu heben beginnt» (Achintya Kumar Sengupta. In: Kallol Jug Bengali Magazine. 1911.)

Sport wurde in der Vergangenheit auch gerne missbraucht, um imperialistische Bindungen mit kolonisierten Ländern zu vertiefen. Die sogenannten Commonwealth Games beispielsweise finden sogar noch heute alle vier Jahre statt. Britische Imperialisten nutzten Fussball oder Cricket, um Angehörige der mittleren Klassen für die Ideen des Empires zu gewinnen. Generäle nutzten Sport, um stärkere und bessere Soldaten auszubilden oder als Rekrutierungsmethode. Er diente aber auch dazu, Herrschaft durchzusetzen: Das Spielen nach den Regeln der Imperialisten war eine weitere Möglichkeit, die unterdrückte Bevölkerung zu kontrollieren und die angebliche Überlegenheit des weissen Mannes zu demonstrieren. Doch schon damals scheiterten die Mächtigen daran, den Fussball unter ihrer absoluten Kontrolle zu halten und für ihre ausschliesslichen Interessen zu nutzen.

So verkündete eine indische Tageszeitung 1911 nach dem Sieg der indischen Mannschaft Mohun Bagan über eine aus britischen Kolonialisten bestehende Auswahl: «Es erfüllt jeden Inder mit Freude und Stolz, dass reisfressende, von Malaria geplagte, barfüssige Bengalen den rindfleischfressenden, herkulischen John Bull in seinem sonderbaren englischen Sport geschlagen haben.» Den Kolonialherren wurde eine empfindliche symbolische Niederlage zugefügt – nicht nur in ihrem Spiel sondern auch in ihrer exklusiven Landesmeisterschaft, bei der die Unterdrückten normalerweise eigentlich gar nicht mitspielen durften. Aber nicht nur im damaligen Indien fand das Aufbegehren unterdrückter Völker seinen Ausdruck über den Fussball. Fast 50 Jahre später, während dem Kampf des algerischen Volkes gegen die französischen Kolonialherren, repräsentierte die sogenannte «Befreiungself» den Kampf um Befreiung im Auftrag der Nationalen Befreiungsfront FLN auf dem Fussballplatz.

Ein mörderisches Spiel

«15.000 Tote für 5.760 Spielminuten – Schämt euch!» (Gemeinsame Choreo der Ostkurve Herta BSC & Südkurve München. Bundesligaspieltag 5.11.2022.)

Korrupte Fifa-Funktionäre und eine gekaufte WM-Vergabe: Alles nichts Neues, das Korruptionsproblem der Fifa ist schon alt. Richtig hohe Wellen werfen aber die mörderischen Arbeitsbedingungen in der Katar-Monarchie – obwohl diese auch in anderen WM-Austragungsländern katastrophal waren. Hunderttausende migrantische Arbeitskräfte haben seit 2010 die WM-Infrastruktur aus dem Wüstenboden gestampft. Sie kommen vor allem aus südasiatischen und afrikanischen Ländern. Sehr viele kehren nicht lebend dorthin zurück. Menschenrechtsorganisationen sprechen von Abertausenden von Todesfällen, die meisten ungeklärt. Hinzu kommen andere unsägliche Zustände Katars: Frauen stehen in allerlei Hinsicht unter männlicher Vormundschaft und Homosexualität ist strafbar.

Diese WM ein monumentales Zeugnis eines ganz und gar zerstörerischen Systems. Sämtliche Krisen der Gegenwart kommen hier im Kleinen zugespitzt zusammen. Da werden in einem autoritär regierten Land, dem die Abhängigkeit der Weltwirtschaft von fossilen Rohstoffen fantastischen Reichtum beschert hat, über 200 Milliarden Petrodollars in die teuerste Fussball-WM aller Zeiten gesteckt. Und während im Zuge des Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine Heiz- und Energiekosten in die Höhe schiessen und Millionen Menschen mit Bange den kalten Witernmonaten entgegensehen, müssen in Katar die nagelneuen Prunkstadien auf erträgliche Temperaturen herunter gekühlt werden. Gebaut wurden sie von entrechteten Arbeitskräften, die teils sogar noch um den niedrigen Lohn geprellt wurden, währenddessen der englische Exfussballer David Beckham als WM-Botschafter 150 Mio Pfund erhalten soll. Die globale Ungleichheit spiegelt sich in Katar in bizarrem Ausmass wieder.

Das ganze Desaster der immensen Klimaschädigungen durch den Bau der Stadien, Hotels, Autobahnen, ganzen Stadtvierteln, eines Flughafens, sowie der enorme Energieverbrauch lässt sich kaum ermessen. Das Turnier soll mehr CO2 verursachen als Länder wie der Kongo oder Haiti in einem ganzen Jahr. Southpole, eine Klimaberatungsfirma aus Zürich, rechnet mit rund 3,6 Megatonnen CO2- Äquivalent. Das entspricht etwa den Emissionen, die eine Viertelmillion Menschen in der Schweiz durchschnittlich pro Jahr ausstossen. Im Vergleich zur WM in Russland 2018 sind dies 60% mehr. Und in diesen Zahlen ist der Unterhalt der Megahallen nach den Spielen noch gar nicht enthalten.

All dies geschieht an einem Ort, der gemäss Klimaforscher_innen ab 2070 für Menschen kaum noch bewohnbar sein wird. Katar erwärmt sich schneller als fast jeder andere Ort auf der Erde, es liegt in der heissesten und trockensten Ecke der Welt. Das Emirat hat keine Seen, Flüsse oder Sümpfe, die für Kühlung sorgen könnten. Gleichzeitig ist Katar der weltweit grösste Exporteur von Flüssiggas. Ein Staat also, gebaut auf und mit fossilen Brennstoffen. Aber die Hauptverantwortlichen, die grossen Eigentümer dieser Welt, sitzen hier bei uns, im Herzen Europas. Sie machen Katar durch ihren unstillbaren Hunger nach Öl und Gas zum superreichen Staat, der sich alles leisten kann.

Mit dabei bei diesem mörderischen Treiben ist natürlich auch die Credit Suisse. Derzeit hält ein katarischer Staatsfonds 5% der Aktien der Grossbank, die gerade einen kräftigen Ausbau in Katars Hauptstadt Doha plant – und dafür eng mit einem Förderfonds zusammenarbeitet, in dem das Königshaus das Sagen hat.

Was tun?

«Fussballfans vereinigt euch! Holen wir uns den Sport zurück!» (Choreo der Nordkurve MSV Duisburg. Bundesligaspieltag 12.11.2022.)

Seit Jahren gibt es deshalb Aufrufe, das Turnier zu boykottieren. Mehrere Städte haben bereits ein Public Viewing untersagt, selbst im Weltmeisterland Frankreich, darunter Paris. In vielen Hamburger Beizen heisst es: Kein Katar in meiner Kneipe! In der Schweiz hat bisher einzig Vevey einen offiziellen Boykott ausgesprochen. Andere Stimmen meinen, dass in manchen Boykottaufrufen ein unterschwelliger anti-arabischer Rassismus mitschwinge, und überhaupt: wer jetzt die WM in Katar boykottiere, müsste sich vom gesamten Fussballbusiness in seiner heutigen Form lossagen. Für uns geht es aber nicht bloss um die Form, sondern um den ganzen Inhalt und die Wurzeln eines ganz und gar maroden mörderischen Systems.

Und auch wenn die Sache mit dem Boykott tatsächlich widersprüchlich ist – nix tun kommt nicht in Frage. Bekanntlich befindet sich der Hauptsitz der Fifa in Zürich. Es wäre mehr als schändlich, wenn in unserer Stadt nichts passieren würde. Es gilt, deutliche Zeichen zu setzen.