Einschätzung zum vorliegenden LMV-Abschluss auf dem Bau

Am 10. Dezember stimmen die Bauleute über das Verhandlungsresultat zum LMV ab. Es ist eine Patt-Situation. Wir haben mit Marius Käch, der in der Verhandlungsdelegation ist, über seine Einschätzung gesprochen.

az: Die Verhandlungsdelegationen der Unia und des Baumeisterverbandes sind vorerst zu einer Einigung gekommen. Diese ist an einer ausserordentlichen Sitzung zustande gekommen. Was waren die Hauptstreitpunkte und was für ein Abschluss steht zur Abstimmung?

Von beiden Seiten wurden im Kern die gleichen Themenbereiche angesprochen: Lohn, Arbeit bei extremer Witterung und die Arbeitszeit. Zu Recht fordern die Bauleute einen Teuerungsausgleich, mehr Zeit für das Privatleben und Schutz vor Schlechtwetter. Sie waren es, die die ganze Pandemie durchgearbeitet haben. Sie sind es, die in den letzten Jahren eine enorme Produktivitätssteigerung geleistet haben. Und sie sind es, die den aktuellen Termindruck ausbaden müssen. Viele verlassen die Branche oder fangen wegen dem Verschleiss und Stress gar nicht erst an, auf dem Bau zu arbeiten.
Auf der anderen Seite sind die Baumeister, die die mehrfachen Krisen des Kapitalismus, den Personalmangel und den Wettbewerb auf die Schultern der Bauleute abwälzen wollen. Sie forderten das Arbeitszeitmodell 23+ oder drohten mit einem vertragslosen Zustand. Ein schöner Euphemismus für Arbeit auf Abruf, Wochenendarbeit, die 58-Stunden-Woche und den faktischen 12-Stunden-Arbeitstag.

Zur Abstimmung steht jetzt ein Vorschlag, der auf Ebene Arbeitszeit ein Patt ist. Da würde sich nichts gross verändern. Weiter ist die stundenweise Kompensation der Witterung jetzt schon möglich und wird zusätzlich explizit im Vertrag erwähnt. Der grosse Streitpunkt ist aber die Lohnerhöhung.
Die Baumeister klagen, dass 150 Franken auf die Effektivlöhne und 100 Franken auf die Mindestlöhne für sie kaum leistbar sei. Dies entspricht aber nur in der Lohnkategorie C, also bei Bauarbeiter_innen ohne Fachkenntnisse, dem Teuerungsausgleich. Über alle Lohnklassen wären 240 Franken von Nöten. Mit der Produktionssteigerung wären sogar 260 Franken verteilungsneutral.

az: Was waren die Hauptinteressen der Baumeister

Im ganzen Bauhauptgewerbe herrscht Fachkräftemangel. Es gibt viel zu wenig Nachwuchs und von denen steigen um die Hälfte wieder aus der Branche aus. Das Personal ist langsam «überaltert». In den kommenden Jahren gehen zudem die Babyboomer in Pension. Wenn die Baumeister in dieser Situation ihre Profitrate halten wollen, so müssen die immer weniger Hände immer mehr Produktivität liefern.

Für das kurzfristige Geld sind sich die Bosse für keine Stellschraube zu schön. Arbeitshetze, Flexibilisierung, Arbeitszeiterhöhung, Wettbewerb unterhalb des Wertes der Aufträge, Lohndumping, Angriffe auf unsere Frührente oder gar das Anstreben eines vertragslosen Zustands.

Die diesjährige Flexibilisierungsoffensive mit der Alternative, keinen LMV mehr zu unterschreiben, war nur ein neuer Versuch der Baumeister, ihre Profitrate über die immer weniger werdenden Bauleute zu steigern.

az: Was denkst du sind die wichtigsten Forderungen der Bauarbeiter_innen? Gibt es da auch Unterschiede?

Auch für die Bauleute ist eigentlich die Profitrate zentral. Das äussert sich aber anders als bei den Baumeistern. Wir fordern bezahlte Reisezeit, eine bezahlte Pause, eine Woche mehr Ferien und eine Reduktion der Arbeitszeit. Für die Witterung braucht es endlich eine Lösung, die nicht wir ausbaden müssen. Die älteren Kolleg_innen brauchen einen effektiven Kündigungsschutz. Zu guter Letzt brauchen wir für alle Lohnklassen mindestens einen Teuerungsausgleich.

Ein wichtiger Unterschied zu den Baumeistern ist aber, dass alle Bauleute den LMV möchten. Bei uns gibt es zwar Flügelkämpfe über die Strategie zum Erreichen der Forderungen. Dass der Vertrag das Ziel ist, bleibt aber unbestritten. Das sieht bei den Meistern ganz anders aus. Dort ist in den letzten Jahren der Flügel erstarkt, der einen dauerhaften vertragslosen Zustand anstrebt.

Neben diesen Hauptthemen – so sei angemerkt – haben wir in den Gewerkschaften auch viele «Kleinigkeiten» erarbeitet. Darunter sind zum Beispiel Forderungen nach Mindestlöhnen für Lehrlinge oder nach sauberen Toiletten.

az: Wie schätzt du diesen Abschluss auf dieser Grundlage für die Bauarbeiter ein?

Beim vorliegenden Abschluss müssen wir ehrlich sein. Bei all unseren Forderungen haben wir voll einkassiert. Trotz der Notwendigkeit unserer Forderungen für unsere Lebensqualität und die Zukunft der Branche, der der Nachwuchs fehlt, konnten wir gar nichts durchsetzen.

Handkehrum haben wir alle Angriffe der Meister abgewehrt und den Vertrag vorerst gesichert. In Anbetracht der gesamtgesellschaftlichen Situation, wo überall sonst in den GAVs Verschlechterungen durchkommen, ist das keine schlechte Leistung. Ein Sieg sieht aber anders aus. Bei der Arbeitszeit und dem Schlechtwetter braucht es unbedingt eine Lösung. Mit dem aktuellen Kräfteverhältnis zwischen den Bauleuten und den Meistern sehe ich aber keine Möglichkeit, in dieser Vertragsperiode noch etwas zu erkämpfen.

Anders ist es da beim Lohn. Dass trotz einer Streikbeteiligung von 15’000 Leuten kein Teuerungsausgleich erreicht wurde, ist ein Schlag ins Gesicht der Bauarbeiter_innen.

az: Wie schätzt du die bisherige Kampagne der Unia und Kampfkraft der Basis ein? Was ist deine Einschätzung zu den bisherigen Streik-Aktionstagen? Konnte da die Kampfkraft genutzt werden?

Solange wir nicht einen Organisationsgrad von 100% haben und beim Streik auf der hinterletzten Alp ein Vollidiot den Hammer schwingt, gibt es noch Luft nach Oben. Im Tessin und der Romandie haben wir trotz allem zünftig aufgeräumt. 80% der Baustellen haben die Ticinesen dicht gemacht und allein in Lausanne waren rund 9’000 Arbeiter_innen auf der Strasse. Das sind beachtliche Leistungen in beiden Landesteilen.

Das steht ganz im Kontrast zur Deutschschweiz. Am 11.11. waren in Zürich, genau wie im Tessin, 2’500 Leute am Streikumzug. Da sind aber die Bauleute der Zentralschweiz, der Ostschweiz und von Bern dazugestossen. Dessen sind sich die Baumeister bewusst. Beim vertragslosen Zustand oder der nächsten Vertragsperiode wird die Entscheidung des Kampfes auf den Strassen von Zürich ausgetragen.

az: Was siehst du für Optionen, falls der vertragslose Zustand eintritt? Wie stark ist die Basis? Was würde sich an der Dynamik ändern in der Basis?

Das Wichtigste bei dieser Frage ist die Dynamik. Versenken wir Bauleute den Vorschlag der Verhandlungsdelegationen und wollen den vollen Teuerungsausgleich? Oder sind die Baumeister sogar für die 150 Franken zu geizig? Im Falle des vertragslosen Zustandes haben wir aber für beide Fälle alle Voraussetzungen für einen erfolgreichen Arbeitskampf. Wir haben die Verankerung in der Basis, wir haben volle Streikkassen, wir haben einen funktionierenden Gewerkschaftsapparat, wir haben einen Fachkräftemangel und wir haben legitime Forderungen für die Bauleute und die Zukunft der ganzen Branche.

Für längere Kampfphasen und Erzwingungsstreik im Frühjahr sind das die besten Grundlagen. Aber vor einer fehlenden Dynamik fürchtet sich die Gewerkschaft und darauf pokern die Baumeister.
In meinem persönlichem Arbeitsumfeld lassen sich die Kollegen nicht lumpen. Die sind bereit zum Kampf, egal wer den Vorschlag ablehnen würde. Für eine richtige Einschätzung ist es aber von Nöten mit den anderen organisierten Bauarbeiter_innen zu reden; bei uns in der Region und auf nationaler Ebene. Unsere bisherige Kampagne war auf eine reine Defensive ausgelegt. Diese Tatsache ist fundamental für die Erwartungen und das Selbstverständnis vom Gros der gewerkschaftlich organisierten Kolleg_innen. Ob da die Mehrheit plötzlich für ein «paar» Franken und höchstens einer zusätzlichen Pause zum offensiven Streik bereit ist, bleibt im Moment noch offen.

az: Wie verhält sich die Unia-Führung? Gibt es bei den Bauarbeiter_innen oder Unia auch Widersprüche?

In der aktuellen Situation sehe ich keinen direkten Widerspruch. Sowohl die Basis als auch die Führung der Gewerkschaften haben einen guten und neuen LMV als Ziel. Aber während für den kämpferischen und revolutionären Teil der Basis ein kurzzeitiger vertragsloser Zustand als Druckmittel gegen die Baumeister ein legitimes Mittel ist, sieht das die Zentrale in Bern anders. Es ist klar, dass ein oberer Kader der Gewerkschaft mit einer jahrelangen professionellen Karriere vor einer anderen Realität steht als ein einfacher Bauarbeiter. Dieser Umstand kann zu einem Widerspruch führen, muss aber nicht. Auf jeden Fall macht das den Arbeitskampf weniger dynamisch, vorhersehbarer, erpressbarer, aber auch weniger riskant.

Mit dem Erreichen des vorliegenden Abschlusses hat die Verhandlungsdelegation und die Führung in erster Linie ihren Job gemacht. Wie bereits erwähnt, streben Teile des Baumeisterverbandes den vertragslosen Zustand an. Diesen Kreisen jetzt unbeholfen in die Hände zu spielen, wäre ein fataler Fehler. Am 10.12. wird sich im Abstimmungsresultat der Berufskonferenz der Bauarbeiter_innen zeigen, ob wir in die Offensive gehen und die Gewerkschaftsleitung bereit ist für einen längerfristigen Arbeitskampf.

Und sollte das eintreffen, werden wir sehen, wo sich die möglichen Widersprüche zwischen Basis und Leitung zuspitzen und wo wir eine positive Dynamik haben werden.

Zur Person:

Marius Käch arbeitet als Maurer im Hochbau. In der Gewerkschaft Unia ist er Vize-Baupräsident der Region Zürich-Schaffhausen und Mitglied der nationalen Verhandlungsdelegation der Gewerkschaften für die Baubranche. Er ist ebenfalls in der Partei der Arbeit der Schweiz organisiert, wo er im Zentralkomitee ist.