Es ist noch lange nicht ausgekocht

So sah es aus, nachdem sich die Wut am 18.2.2023 bei der «Alles wird besetzt»-Demo in Zürich entladen hatte.

In der Wohnungsnot wird fassbar, was kapitalistische Stadtentwicklung für den Grossteil der Bevölkerung bedeutet – Verdrängung und Stress. Dagegen regt sich zaghaft Widerstand, etwa im Kampf um besetzte Häuser.

(agj) Die Wohnungsnot ist landauf, landab Thema. Kaum ein Tag vergeht ohne entsprechende Schlagzeile in den bürgerlichen Medien. Auch wenn die Zustände in der Stadt Zürich mit einer Leerwohnungsziffer im Promillebereich schweizweit am zugespitztesten sein mögen, ist es keinesfalls so, dass Zürich eine Ausnahme darstellt. Studien der Banken und Immobilienfirmen legen nahe, dass sich in naher Zukunft diese Situation weiter verschlechtern wird. Die Raiffeisenbank titelt im November 2022 «Mit Vollgas in die Wohnungsnot», die Credit Suisse warnt im März 2023 «Eisberg voraus!» (andere Eisberge antizipierten sie wohl weniger gut…) und Wüest Partner errechnete für die NZZ am Sonntag ein schweizweites Defizit von 51’000 Wohnungen in den kommenden drei Jahren. «In der Grössenordnung entspricht dies der Stadt Luzern oder halb Basel,» kommentiert die Zeitung knapp. Wohlgemerkt: Hierbei geht es lediglich um den verfügbaren Wohnraum, von den steigenden Mietpreisen in Folge von Hypothekarzinserhöhungen und gestiegenen Energiepreisen für bestehende Mieter_innen ist noch nicht einmal die Rede.

Wohnungsnot? Wohnungsnot!

Unsere Einigkeit mit Banken und dergleichen ist selbstverständlich beschränkt auf die Feststellung der gewaltigen Dimensionen dieses Problems. Sobald es um die Ursachen desselben geht, scheiden sich die Wege. Allerspätestens wenn die Banken als Sprecher_innen des Kapitals als Mittel zur Minderung der Wohnungsnot dann noch nach einem erweiterten «Regulierungsabbau» rufen, ist klar, dass wir und sie auf entgegengesetzten Seiten der Barrikade stehen.

Für die herrschende Klasse ist die Urbanisierung ein Feld, in dem sich lukrative Investitions- und Spekulationsgebiete eröffnen. Um das Bestehen des Kapitalismus zu sichern, muss überakkumuliertes Kapital zwingend eine neue Anlage finden. Investitionen in die Stadt, konkret in Immobilien und Grundstücke, sind ein Garant dafür. In Bauprojekten und Immobilien findet das Kapital eine scheinbar sichere und vor allem langfristige Anlage, während die Preisspirale des Immobiliensektors weitere lukrative Gewinne verspricht. Immobilien als etwas «Dingfestes» waren schon immer eine Ware. Verändert hat sich allerdings, dass durch die totale Abkopplung von realen Bedürfnissen die Spekulation um Boden in einer Unverhältnismässigkeit praktiziert wird, die immer mehr zum Problem wird.

Dabei sind es dieselben Grossbanken, die sich als vermeintliche Sprecher_innen der Mieter_innen aufführen, welche schon heute zu den grössten Immobilienbesitzenden gehören und so jedes Interesse daran haben, ihren Profit in diesem Bereich weiter zu vermehren. Die Mietenden werden über Mieten und Unterhaltskosten ein zweites Mal ausgebeutet. Das linksliberale Rechercheteam Reflekt hat sich 2021 auf die Suche nach der Antwort auf die Frage «Wem gehört Zürich?» gemacht und die Besitzenden eines Teils des Bodens in der Stadt aufgrund von Anfragen bei denselben identifiziert. Zum damaligen Zeitpunkt gehörten den Top Ten dieser Liste rund 10 Prozent aller Wohnungen in der Stadt Zürich, wobei viele Grössen der Immobranche aufgrund ihrer verweigerten Teilnahme gar nicht erst identifiziert werden konnten. Dominiert werden die vordersten Plätze der Rangliste von Banken (wie die UBS und die Credit Suisse), Versicherungen (die Swiss Life, AXA, Zurich Insurance oder Allianz) sowie grossen Pensionskassen (die BVK, die als grösste Pensionskasse der Schweiz die Angestellten des Kantons Zürich versorgt, und jene der Migros), erst danach folgen eigentliche Immobilienfirmen (wie die Mobimo). Es ist unwahrscheinlich, dass sich an diesem Bild seither viel geändert hat.

Wo-Wo-Wohnige!

Völlig naheliegend, dass sich die «alles wird gut besetzt»-Kampagne, die sich rund um die Räumung des besetzten Koch-Areals in Zürich entwickelte, nicht bloss auf das Thema der besetzten Häuser beschränkte. Stattdessen wurde das Feld inhaltlich geöffnet und die Demonstration Mitte Februar 2023 nach der Räumung auch zu einer Manifestation gegen die Wohnungsnot in Zürich. Gewiss versuchten die bürgerlichen Politiker_innen und ihre Claqueure in den Medien den politischen Charakter des Abends im Nachhinein kleinzureden. Schon kurz nach der Demonstration schwärmten die Journalist_innen der Lokalsender aus, um empörte Bürger_innen vor die Kamera zu kriegen, die sich über kaputte Scheiben an Tramhaltestellen enervierten, und jedem Kleinbürger, der im Achtzgi «imfall au debi gsi isch» (denn früher war alles besser), heute aber arriviert Feinkostläden und ähnliches betreibt, waren die Absätze in den Lokalblättern gewiss. Wer aber tatsächlich mit der Demonstration mitzog und sah, wie sich etwa am Luxusneubau an der Kanonengasse die Wut minutenlang darüber entlud, dass dort nun Reiche für mehrere tausend Franken pro Monat zur Miete in meterhohen Zimmern wohnen, während unsereins keinen noch so kleinen Platz in der Stadt findet, verstand das Ziel des Abends gewiss: Ein militantes Zeichen gegen die Stadt der Reichen.

Es ist ein Zeichen, das die Herrschenden in dieser Stadt durchaus zu verstehen fähig sind. Der «Häuserfrieden», der sich zum Beispiel in der langjährigen Praxis der Stadtpolizei Zürich niederschlug, besetzte Häuser nur unter gewissen Bedingungen zu räumen, ging aus einer längeren Phase des militanten Häuserkampfes hervor. Ende der 1980er-Jahre war die Leerwohnungsziffer in der Stadt ungefähr so tief wie heute. Ähnlich wie damals entlud sich die Wut darüber immer wieder auf der Strasse. Als wöchentlich Demonstrationen stattfanden, Häuser besetzt wurden und im Nachgang ihrer Räumung der Preis für die Räumung jeweils via Sachbeschädigungen hochgetrieben wurde, sah sich die Politik gezwungen, einzulenken. Der damalige Polizeivorsteher Hans Frick meinte dazu nach der Koch-Demonstration in der NZZ: «Die wöchentlichen Demonstrationen haben die Bevölkerung verrückt gemacht. Wir mussten zusehen, dass wir sie in einem tragbaren Mass halten konnten, deshalb hat man im Umgang mit Besetzern sicher eine gewisse Zurückhaltung geübt.»

Von dieser Zurückhaltung ist heute wenig übrig, so dass die Demonstration auch in diesem Sinne ihre Berechtigung hatte. Rund um die «alles wird gut besetzt»-Kampagne wurde – getreu dem Motto – viel besetzt: Kleine Flächen, die sich für Wagenplätze eignen (beim Juchhof im Albisriederdörfli oder auf dem Hardturm), ungenutzte Bürogebäude (in Wipkingen oder im ehemaligen Gebäude der Kriminalpolizei) oder Industriehallen wie jene der EWZ am Letten, die leerstanden. Erstens zeigen all diese Initiativen, dass es durchaus noch ungenutzte Räume in dieser Stadt gibt, die zwecks Nutzung angeeignet werden können. Und zweitens ist praktisch allen dieser Besetzungsversuche gemeinsam, dass es beim Versuch blieb, weil die Politik und Polizei offensiv gegen sie vorging. Den Spielraum, der mit dem «Häuserfrieden» einherging, scheint so nicht mehr vorhanden zu sein, im Gegenteil, kurzerhand lanciert der Stadtrat selbst Lügen wie jene des einsturzgefährdeten Dachs bei der EWZ, um der polizeilichen Räumung eine Legitimation zu verschaffen. Ein durchschaubares Manöver.

Hü-Hü-Hüserkampf!

Die Ressource Raum wird zunehmend knapp und die Planung und Gestaltung des öffentlichen Raums geschieht nicht zufällig. Die Kriterien der Stadtstrateg_innen richten sich nicht nach den Bedürfnissen derer, die die Stadt produzieren und reproduzieren, sondern nach der Bedeutsamkeit des jeweiligen Ortes für den internationalen Markt. Die unternehmerische Städtepolitik (nachzulesen im Artikel «Verdichtung heisst Verdrängung», Aufbau Zeitung Nr. 113, Mai/ Juni 2023, S. 7), den Sachzwängen des Kapitalismus unterworfen, orientiert sich vor allem am Konkurrenzverhältnis zu anderen Ortschaften und am Kampf um Standortvorteile. Der Kampf gegen die kapitalistische Stadtentwicklung ist ein Kampf um Räume, seien es nun besetzte Häuser, Freiräume oder der Kampf gegen die Verdrängung. Wenn wir diese Kämpfe verbinden können, sind wir stärker. Auch wenn der Gegner allmächtig scheint und die Zeichen nicht für uns stehen, müssen wir ein Stachel im Fleisch bleiben. Vielleicht erreichen wir nicht alles auf einmal, aber um zu gewinnen, muss man Kämpfen. Kleine Stiche, wie zum Beispiel am 1. April 2023 an der Reclaim The Streets in Zürich sollen den Herrschenden zeigen, dass auch wir etwas zu sagen haben, wenn es um die Gestaltung der Räume in unseren Städten geht.

Aus: Aufbau Zeitung Nr. 113, Mai/ Juni 2023, S. 1 & 7