Landwirtschaft: Habt ihr Bio-Tomaten auf den Augen?

Wieviel revolutionäres Potential steckt im Konzept der solidarischen Landwirtschaft?

(agf/agj) Regionales und saisonales Biogemüse finden mittlerweile alle toll. In jeder WG-Küche hängt ein Saisonkalender an der Wand und in unseren Städten fahren farmy- und Öpfelchasperwägeli herum. Die Konsummöglichkeiten haben sich in diesem Bereich massiv ausgeweitet. Gehst du an den regionalen Wochenmarkt einkaufen, hast du eher ein Gemüseabo oder gehst du lieber in die Regioabteilung von Coop? Solidarische Landwirtschaft – kurz Solawi – behauptet von sich, weiter zu gehen. In der linken Bewegung sind die Solawis seit einigen Jahren ein Modell für einen Wandel der ökonomischen Strukturen. Was unterscheidet dieses Vermarktungskonzept von dem anderer Landwirtschaftsbetriebe?

Dazu schauen wir erstmals die aktuellen Produktionsbedingungen im Gemüsebau in der Schweiz an. Wie die Landwirtschaft im Allgemeinen, wird auch der Gemüsebau immer weiter spezialisiert. Betriebe, die Gemüse produzieren, machen dies als alleiniger Betriebszweig und auf immer grösseren Flächen pro Betrieb, immer stärker mechanisiert. Der Gemüsebau zeichnet sich durch einen höheren Anteil an Handarbeit und eine starkte Saisonalität aus, was die ohnehin prekären Arbeitsbedingungen in der Landwirtschaft für die vielen Arbeitsmigrant_innen im Gemüsebau noch verstärkt. Während der Corona-Pandemie wurden vor allem Beispiele aus Deutschland bekannt, wo Arbeiter_innen trotz Reiseverbot aus Rumänien nach Deutschland eingeflogen wurden. Aber auch in der Schweiz wurden und wird immer wieder mal ein Beispiel bekannt, wie schlecht Landarbeiter_innen verdienen oder in was für verlotterten Baraken sie untergebracht werden. Die Saisonalität der Anstellungen verhindert eine Organisierung der Landarbeiter_innen. Und der Verband Schweizer Gemüseproduzenten (VSGP), fest in Hand der SVP, hat kein Interesse an der Verbesserung der Arbeitsbedingungen.

Ein anderes Modell für Gemüseanbau

Auf stark spezialisierten Gemüsebetrieben ist der Einsatz von zugekauften Düngern notwendig, da der Nährstoffbedarf nicht über betriebseigene Quellen (beispielsweise Gülle oder Mist) gedeckt werden kann. Auf konventionellen Betrieben bedeutet dies Zukauf von technisch und energetisch aufwendig hergestellten Mineraldüngern. Herstellung und Ausbringung solcher Dünger verursachen etwa 10 Kilogramm CO2-Äquivalente pro Kilogramm Düngerstickstoff.

Durch die kurze Haltbarkeit, die hohen Qualitätsanforderungen im Detailhandel und die durch die Lohnintensität starke Konkurrenz aus dem Ausland, wird mehr als die Hälfte des produzierten Gemüses weggeworfen. Ein Grossteil davon fällt direkt auf dem Landwirtschaftsbetrieb an – der Anteil «nicht-vermarktungsfähiges» Gemüse – was bedeutet, dass die Gemüseproduzent_in die Kosten vollständig trägt. In der Schweiz hat dies neben «Qualitätsmängeln», beispielsweise durch Unwetter, auch oft mit saisonalen Importzöllen zu tun. Da kauft Coop halt lieber den billigen spanischen Eisbergsalat. Hier spielt die starke Marktkonzentration im Detailhandel eine grosse Rolle.

Solawis verfolgen idealistische Ziele, die diesen Mechanismen entgegenwirken sollen. Bei einer klassischen Gemüse-Solawi bezahlen Mitglieder beim Eintritt einen fixen Betrag und bekommen im Laufe der Saison meist wöchentlich eine Portion Gemüse. Bezahlt wird nicht das Produkt, sondern der Einsatz der Produktionsmittel, welcher notwendig ist um einen Betrieb z.B. eine Gemüsesaison lang am Laufen zu halten. Dazu gehört die Bezahlung der Angestellten, Inputs wie Saatgut, Spritzmittel und Dünger, sowie Wasser, Strom, Diesel, Pacht/Mieten, Maschinenkosten und so weiter. So wird ein Teil des Produktionsrisikos von den Produzent_innen auf die Konsumierenden übertragen. Dies bedeutet insbesondere eine gewisse Versicherung bei Wetterereignissen wie beispielsweise Hagel, übermässigem oder fehlendem Niederschlag oder Hitze. Die Solawi-Mitglieder bekommen also auch den Eisbergsalat, nachdem der Hagel darüber fegte oder zumindest decken sie mit ihrem Beitrag die Produktionskosten im Vornherein.

Was bei den meisten Solawis dazugehört, ist die Mitarbeit der Mitglieder auf dem Betrieb im Rahmen von Arbeitseinsätzen. Was ist nun das revolutionäre Potential eines solchen Vermarktungskonzeptes? Ist es einfach eine weitere Konsummöglichkeit? Untergräbt es die Marktlogik? Oder setzt es gar subversive Energien frei? Die Solawi-Bewegung selber hat eine klar politische Haltung dazu. Die meisten Vertreter_innen verstehen sich als Aktivist_innen einer antikapitalistischen, transformativen Bewegung. Auf einem Solawi-Betrieb existiert der direkte Druck des Marktes nicht – die Existenz des Betriebs ist nicht direkt von sich wöchentlich ändernden Marktpreisen oder Ernteausfällen bedroht. Die Mitglieder verstehen sich als Prosument_innen – die Trennung von Produktion und Konsumtion wird teilweise aufgehoben. Diese Aufhebung wirkt auch der Entfremdung entgegen, nicht nur der Konsumierenden sondern auch der Produzierenden – die Entfremdung der Produkte der eigenen Arbeit, der Produktionsmittel und auf jeden Fall der Natur. Die Solawi bedeuetet immer eine gewisse Gemeinschaft, das verändert die Menschen. Statt alleine mit seinen Konsumentscheidungen zu sein (und diesbezüglich in der bürgerlichen Gesellschaft unter grossem moralischem Druck zu stehen), kann in einer Solawi gemeinsam bestimmt werden, was und wieviel produziert wird. Dies ist eine Erfahrung die im sonstigen Alltag nicht gemacht werden kann.

Das klingt schon alles sehr revolutionär…

Wenn man sich die Situation der Solawis jedoch genauer ansieht fällt auf, dass es sich doch um eine recht begrenzte, privilegierte Menschengruppe handelt, die keine gesamtgesellschaftliche Entwicklungen abbildet. Die Solawis, die heute in der Schweiz bestehen, sind keine proletarischen Selbsthilfeorganisationen, wie sie ab dem 19. Jahrhundert als Lebensmittelgenossenschaften entstanden. Die Mitgliederschaft ist eher links oder linksliberal eingestellt, wohnt im urbanen Umfeld und verdient genug, um qualitative Nahrungsmittel zu bezahlen und auch noch Zeit im Betrieb zu investieren. Die Organisierung in einer landwirtschaftlichen Genossenschaft geschieht momentan in der Schweiz nicht aus einer Not heraus, sondern aus idealistischen Motiven. Die Menschen wollen näher an der Nahrungsmittelproduktion dran sein und wissen woher die Produkte kommen.

Ein kritischer Punkt sind die Anstellungsbedingungen, denn normalerweise wird nicht die gesamte Arbeit von den Mitgliedern erledigt. In Landwirtschaft oder Gemüsebau ausgebildete Menschen erledigen viele Planungs-, Maschinen- und viele weitere Arbeiten, die nicht so einfach von Laien übernommen werden können. Bei diesen Angestellten wird darauf geachtet, dass die Arbeitsbedingungen besser sind als sonst üblich in der Landwirtschaft. Doch richtig gute Arbeitsbedingungen gibt es auch in Gemüsegenossenschaften nicht. Auch wenn der Betrieb nicht direkt der marktwirtschaftlichen Preisbildung ausgesetzt ist, fällt das Geld nicht vom Himmel. Die kapitalistisch strukturierte Lebensrealität der Mitglieder lässt vielen kaum Kapazitäten, sich in notwendigem Masse für den Betrieb einzusetzen, sodass diese wieder eher eine Dienstleistungsperspektive einnehmen. Dies bedeutet in der Praxis vieler Solawis mehr Druck und Überstunden für die bezahlten Arbeitskräfte des Betriebs.

Auf der anderen Seite kann auch die unbezahlte Arbeit der Mitglieder unter kapitalistischen Produktionsbedingungen skeptisch betrachtet werden. Es ist kein Wunder, dass solche Konzepte, in denen vormals in Dienstleistungen oder Service Public integrierte Arbeiten an die Konsument_innen bzw. Bürger_innen ausgelagert werden (weitere Beispiele sind auch Selfcheckout-Kassen oder cut&color-Coiffeurläden), ganz im Sinne des Community-Capitalism in neoliberalen Zeiten Aufschwung erhalten.

Bedeuten die Solawis in einer kapitalistischen Marktsituation also nur als eine Marktnische, die einigen Idealist_innen zu etwas mehr moralischer Integrität verhilft?

Ein Blick in die Zukunft?

Die kollektive Organisierung in einem Betrieb schon im kapitalistischen Hier und Jetzt auszuprobieren, bringt uns vielleicht nicht die Revolution, kann uns aber nach einer solchen bestimmt nützlich sein. Vielleicht gehört die Solawi zu dem Stoff aus dem unsere Utopien gemacht sind. In einer post-kapitalistischen Perspektive ist es durchaus denkbar, dass Betriebe zu einem Grossteil nach diesen Prinzipien funktionieren. Im Gegensatz zu sowjetischen grossindustriellen Landwirtschaftskooperativen wird die Arbeit auf Solawis demokratischer und weniger entfremdet verteilt. Sie enthält ebenso die Aufhebung der Trennung zwischen Kopf- und Handarbeit und ermöglicht einen praktischen Zugang zur Natur, der ein anderes Bewusstsein schafft. Oder wie Marx in die Zukunft geschaut hat, die uns ermöglichen soll «heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden.»

Und überhaupt, sich kollektiv zu organisieren, und gemeinsam solidarisch Entscheidungen zu treffen ist eine Praxis, die der kapitalistischen Vereinzelung entgegenwirkt. Hauptsache man hat nicht nur keine Tomaten auf den Augen, sondern packt auch die Rübe mitsamt der Wurzel.

aus: aufbau 115