Schon immer hat die Natur eine aktive Rolle in der Geschichte gespielt. Um die Tragweite der aktuellen ökologischen Krise einzuordnen, lohnt sich also ein Blick zurück.
(agkk) Die Geschichte ist die Geschichte der Klassenkämpfe, lehrt uns der historische Materialismus. Die Dialektik zwischen Gesellschaften und der Natur muss ebenfalls berücksichtigt werden, ergänzen US-Soziologe Jason W. Moore und der britische Ökonom Raj Patel. Ausgehend von der Krise, die das Ende des Feudalismus einläutete, zeichnen sie in ihrem Buch «Entwertung – Eine Geschichte der Welt in sieben billigen Dingen» (orig. engl: «A History of the World in Seven Cheap Things – A Guide to Capitalism, Nature and the Future of the Planet») die Geschichte des Kapitalismus vom Beginn des Kolonialismus bis heute nach. Änderungen in der Umwelt haben vielfach eine aktivere Rolle bei Revolten und Umbrüchen historischer Epochen gespielt, als es in bürgerlichen Geschichtsbüchern steht. Und auf jede dieser Krisen war die Reaktion der Herrschenden die Ausdehnung der Ausbeutung und Aneignung, die wiederum mit Widerstand von unten beantwortet wurde.
Klimakrisen und Klassenkämpfe gehen Hand in Hand
Während der mittelalterlichen Warmzeit (ca. 950-1250) genoss Europa ein für die Landwirtschaft günstiges Klima, auf dessen Grundlage der Feudalismus aufblühte. Als das Klima danach kälter und nasser wurde, waren wiederholte Missernten und Hungersnöte die Folge. Aufgrund ihrer Profitinteressen ließen die Lehensherren die Bäuer_innen v.a. Getreide anbauen. Diese mangelnde Vielfalt im Anbau laugte die Böden aus und schwächte die Resilienz gegenüber des damaligen Klimawandels. Die ab 1347 mit Handelsschiffen ankommende Pest traf die ausgemergelte Bauernschaft mit voller Härte und der Schwarze Tod raffte ein Drittel der europäischen Bevölkerung dahin. Die folgende Knappheit an Arbeitskräften verschob das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen nach unten und führte zusammen mit der grassierenden Not zu Aufständen, die zum Umsturz des Feudalismus schliesslich wesentlich beitrugen.
Vom Feudalismus zu Kolonialismus, Genozid und Kleiner Eiszeit
Die Feudalherren unternahmen alles, um letztlich vergeblich zu versuchen, das alte Feudalsystem wieder herzustellen. Sie hegten viele Allmenden ein (Privatisierung), worauf hin sich die Bäuer_innen im Deutschen Bauernkrieg in Deutschland, der Nordschweiz (u.a. Zürich und Bern), dem Elsass und Österreich um 1525 bewaffnet erhoben. Neben dieser Reaktion im Innern war eine weitere Antwort der Herrschenden die kriegerische Expansion, die Verschiebung der Ausbeutungs- und Aneignungsgrenzen (engl. Frontiers) nach Aussen, der Beginn des Kolonialismus im 15. Jahrhundert. Moore und Patel sehen darin die Wiege des Kapitalismus. Komplett im Widerspruch zur bürgerlichen Geschichtsschreibung erfolgte die Kolonisierung der Amerikas nicht aus einer europäischen Stärke, sondern Schwäche und Krise. Zu dieser Zeit waren die spanische und portugiesische Flotte der chinesischen weit unterlegen. Dem Genozid an den Indigenen durch koloniale Gewalt, Ausbeutung und eingeschleppte Krankheiten fielen über 90% der Bevölkerung der Amerikas zum Opfer. Durch diesen dramatischen Bevölkerungseinbruch lagen Ackerflächen brach, wo Wald nachwuchs und dabei gigantische Mengen CO2 aus der Luft aufnahm. Dies wiederum verschärfte die Klimaabkühlung, die sich bis zur Kleinen Eiszeit (ca. 15.-19. Jh.) zuspitzte. Um 1610 erreichte der atmosphärische CO2-Gehalt durch den Genozid seinen kalten Tiefpunkt (Orbis-Spike – siehe Bild) und etwas verzögert trat die Klimakrise ein. Sie schüttelte Europa mit Hungersnöten, verschärften Klassenkämpfen, Aufständen und Revolutionen durch. Auch die Französische Revolution 1789-1799 fiel in die letzte Kälteperiode der Kleinen Eiszeit.
Kapitalismus als Weltökologie
In Marx’ Worten: Der Kapitalismus wurde «von Kopf bis Zeh, aus allen Poren blut- und schmutztriefend» aus dem zusammenbrechenden Feudalismus geboren und die Natur spielte darin eine aktive Rolle. Moore und Patel sprechen daher vom Kapitalismus als Weltökologie. Diese Begrifflichkeit macht sichtbar, wie verwoben die herrschenden ökonomischen und gesellschaftlichen Verhältnisse mit der nicht-menschlichen Natur sind. Und deutet an, dass die zerstörerische Kraft des Kapitalismus auch auf der Trennung ebendieser beiden Sphären beruht. Die durch die begriffliche Trennung erschaffene Natur wird zu etwas dem Menschen Äusserlichen, zur Ressource, die zur uneingeschränkten Aneignung frei steht. Oder, wie es die Soziologin Claudia von Werlhof formuliert: «Aus der Sicht der Herrschenden ist banalerweise jeweils alles das ‹Natur›, wofür sie nicht bezahlen oder bezahlen wollen, was sie nichts (oder möglichst wenig) kosten soll. Das ist alles, was sie sich durch Raub (anstatt Tausch) aneignen können, und darüber hinaus alles, was sie nicht erneuern und erhalten wollen.»
Obwohl wir vom Kapitalismus sprechen, müssen wir anerkennen, dass wir keineswegs in einer komplett durchkapitalisierten Welt leben. Noch immer wird global mehr unbezahlte als bezahlte Arbeit geleistet. Die Ökosysteme regenerieren und puffern ohne das Zutun von Investor_innen. Ein wichtiger Teil der Landwirtschaft dient global betrachtet noch immer primär der Ernährung der eigenen Familie und nicht dem Absatz auf Märkten. Und es ist oft profitabler, dass zur Regeneration dieser Sphären das Kapital nichts beitragen muss. Moores und Patels These ist denn auch, dass der Kapitalismus weiterhin und wiederholt Kraft daraus schöpft, sich Produkte aus nicht-kapitalisierten Sphären anzueignen, um aus ihnen neuen Profit zu generieren. In den Krisen des Kapitalismus müssen diese «billigen Dinge» – wie Patel und Moore sie nennen – herhalten, damit sich die Rädchen der Mehrwertproduktion weiter drehen.
Frontiers und billige Dinge
Diese Ränder des Kapitalismus werden oft auch als Frontiers (engl. Grenzland) bezeichnet. Patel und Moore sprechen von sieben «billigen Dingen», deren Aneignung in der Geschichte des Kapitalismus immer schon eine Rolle gespielt hat: Billige Natur, billige Arbeit, billige Nahrung, billige Energie, billige Leben, billige Fürsorge, billiges Geld. «Billig» soll konzeptuell verstanden sein und kann je nach Kontext bedeuten, dass Dinge gratis oder sehr günstig zur Verfügung stehen oder auch durch ideologische Abwertung angeeignet werden. Wie diese miteinander zusammenhängen, sich gegenseitig bedingen oder ergänzen, werden die Autoren nicht müde mit historischen Beispielen auszuführen. So lässt sich beispielsweise die Entwicklung des globalen Ernährungssystems seit den Weltkriegen sehr anschaulich mit der «Verbilligung» dieser sieben Dinge beschreiben: Angefeuert durch Klassenkämpfe, mussten die Herrschenden, um weiterhin profitabel zu sein, dafür sorgen, dass die Arbeiter_innen möglichst geringe Lebenshaltungskosten hatten. Mit der Industrialisierung der Landwirtschaft und der Globalisierung der Produktion von Grundnahrungsmitteln konnte dies vorangetrieben werden. In Patels und Moores Worten: Billige Nahrung ermöglicht billige Arbeit. Diese billige Nahrung geht Hand in Hand mit Umweltzerstörung (billige Natur) und kann nur mithilfe von fossilen Brennstoffen (billige Energie) und Kolonisierung (billige Leben) hergestellt werden. Bis heute ist diese Kaskade der Entwertung eine Grundlage der globalen Ausbeutungskette. Und auch die billige Fürsorge – also schlecht oder gar nicht bezahlte Haus- und Pflegearbeit – verbilligt bis heute die Ware Arbeitskraft. Die aktuelle Weltlage macht beispielhaft sichtbar, dass, wenn dies alles nichts mehr nützt, immerhin noch mit «billigem Geld» Expansionskriege geführt werden können.
Heutige Klimakrise bringt Klassengesellschaft ins Wanken
Immer wieder eröffnen Kapitalist_innen also neue Frontiers um mehr Kapital zu akkumulieren. Wohin weicht der Kapitalismus angesichts der heutigen umfassenden Krise aus? Welche Frontiers lassen sich noch ausdehnen? Welche billigen Dinge noch ausbeuten oder aneignen? Jede Frontier ist auch ein potentieller Ort für Widerstand. Die ökologischen Krisen zeigen Widerspruchslinien zwischen den Interessen der Klassen: Während das Kapital auf kurzfristigen Profit aus ist, ist die ganze Menschheit auf ein stabiles Klima und Ökosysteme angewiesen. Die aktuelle Klimakrise seit Mitte des 20. Jh. ist weit dramatischer als die mittelalterliche Warmzeit und die Kleine Eiszeit. Wenn diese bereits zu Aufständen und Revolten beitrugen, welche einschneidenden historischen Umbrüche kommen wohl auf uns zu? Klar ist, dass die ökologische Krise nicht nur globale Machtkomplexe verschieben wird, sondern auch hier das Klassengefüge ins Wanken bringen wird. Es liegt an uns, die Geschichte von einem proletarischen Standpunkt aus zu lesen, die aktive Rolle der Ökosysteme darin wahrzunehmen und mit unseren Kämpfen die Richtung der Konfrontationen zu bestimmen.
Zum Weiterlesen und Hören
Buch: Raj Patel & Jason W. Moore, 2018. Entwertung: Eine Geschichte der Welt in sieben billigen Dingen. Dt Übersetzung Rohwolt.
Buch: Jason W. Moore, 2015. Kapitalismus im Lebensnetz: Ökologie und die Akkumulation des Kapitals.
Podcast (E): theanalysis.news: Capitalocene: How Capitalism created the climate crisis: https://open.spotify.com/episode/1zkOGVd2OZvTroO4nTWy0Q?si=df99611f102748f1