«In der Türkei herrschte immer Faschismus»

Alles wird teurer. Marktszene in Safranbolu.

Während eines Aufenthalts in Rojava konnten wir mit einem Genossen sprechen, der lange in der Türkei politisch aktiv war. Danach ging er nach Rojava, wo er gegen den IS kämpfte und unter anderem auch bei der Befreiung von Kobanê und Raqqa dabei war. Wir befragten ihn über die aktuelle Situation in der Türkei. Das Interview wurde im vergangenen Sommer geführt und in Aufbau Zeitung Nr. 111 publiziert.

(rabs) Wie schätzt du die aktuelle Lage der Arbeiter_innenklasse in der Türkei ein?

Die Situation in der Türkei ist sehr schlimm. Hauptgrund dafür ist die ökonomische Situation, die riesige wirtschaftliche Krise. Das liegt zu grossen Teilen an Erdogan. Das Regime stahl Geld und treibt zu viele Steuern von den Leuten ein. Auch privatisierten sie staatliche Unternehmen wie Banken und verkauften Rohstoffe an private Firmen. Zum Beispiel verkauften sie eine staatliche Bank an Katar.

Wie hat sich die Situation in der Türkei dahin entwickelt, wo sie heute ist?

Vor zehn Jahren war alles viel billiger. Wenn man vorher mit dem Mindestlohn zum Beispiel 100 kg Fleisch kaufen konnte, kann man heute damit nur noch 35 oder 40 kg Fleisch kaufen. Neben der Wirtschaft sind die Arbeiter_innenfrage und die Frauenfrage sehr wichtig. Sehr viele Frauen werden in der Türkei umgebracht. Dann natürlich die Frage des kurdischen Volks. Alle diese Probleme müssten gelöst werden, aber momentan werden sie durch die wirtschaftlichen Probleme überlagert. Es scheint, dass Erdogan diese Probleme nicht lösen kann. Daher kommt die grosse Wut der Menschen auf Erdogan. Die türkische Wirtschaft ist wie ein altes Auto: Sie versuchen immer wieder etwas zu flicken, aber das Auto ist abgefuckt, es geht immer wieder was kaputt. Das Auto müsste ausgewechselt werden, sonst gibt es immer wieder ein neues Problem. Das gilt auch für das wirtschaftliche System. Die einzige Lösung ist ein Systemwechsel, der Sozialismus. Dafür braucht es eine Revolution, aber das ist ein anderes Thema.
Ich denke, das zweite sehr wichtige Problem ist die Frage des kurdischen Volks. Bevor Erdogan Premierminister wurde, sagte er, er würde die kurdische Frage lösen. Er kam in einer Koalition mit der Gülen-Bewegung an die Macht und sie arbeiteten bis 2012 zusammen.
Die kemalistische Bewegung, zum Beispiel die CHP, war im Militär sehr stark, die unterstützten die kemalistischen Ideen. Immer wenn es Probleme gab, versuchten sie ,diese mit einem Militärputsch zu lösen, wie in den 60er Jahren oder beim Regierungswechsel 1971.
Nach der Wahl Erdogans versuchte die Gülen-Bewegung, alles zu übernehmen, die Polizei, das Justizsystem, das Bildungssystem usw. Da versuchte die Armee einen neuen Putsch zu machen. Die Reaktion darauf war massive Repression mit tausenden Verhaftungen.
Die Probleme zwischen Gülen und Erdogan begannen, als Erdogan mehr Macht auf sich vereinen wollte. Ausserdem versuchte er, die kurdische Frage auf eine andere Art zu lösen als Gülen das wollte, nämlich mit einem Abkommen mit der PKK. 2012 begannen die Treffen zwischen der Regierung und der PKK, was die Gülen-Bewegung erzürnte und die Beziehungen zur Regierung verschlechterte. Die Regierung wollte die kurdische Bewegung und die PKK zerstören. Weil Erdogan merkte, dass er die PKK im Kampf nicht besiegen konnte, begann er die Friedensverhandlungen. Dadurch wurde die PKK etwas legaler und man konnte die Kader der PKK überall sehen, sie trauten sich wieder auf die Strasse. Die Regierung öffnete die Grenze zu Rojava für junge kurdische Menschen in der Hoffnung, dass sie dort im Kampf fallen. Als aber Erdogan merkte, dass die PKK nicht Hand bieten würde für seine Diktator-Ambitionen, stoppte er den Prozess wieder. Er versuchte zu verstehen, wer Kader der PKK ist und versuchte, diese zu verhaften. Er nutzte den Friedensprozess, um sich auf einen grossen Krieg vorzubereiten. Auch die PKK bereitete sich vor, aber nicht sehr gut. Im Krieg 2015/16 in Nordkurdistan wurde deshalb viel zerstört.
Erdogan hat gemerkt, dass es nicht einfach ist, die PKK zu zerstören und greift deshalb alle Gebiete an, in denen diese Einfluss hat. In Nordkurdistan wird jede Demonstration, jede Aktion für Demokratie und mehr Rechte angegriffen, durch die Polizei, die Medien, die Armee. Die Menschen werden ins Gefängnis gesteckt oder getötet. Auch Başur (Südkurdistan / Nordirak) und Rojava werden massiv angegriffen.

Wenn wir von Europa aus schauen, denken wir, dass der Kemalismus die bürgerliche Revolution darstellt. In Europa sprechen wir über die Türkei als eine Demokratie.

In der Türkei herrschte immer Faschismus, von Anfang an. Nach dem ersten Weltkrieg gab es Krieg gegen Frankreich, Grossbritannien, Italien, die hier Gebiete besetzt hielten. Als die Kemalisten ans Ruder kamen, änderte sich der Charakter des Krieges gegen die Imperialisten. Die Kemalisten sind vor allem die lokale Grossbourgeoisie, die Grossgrundbesitzer, die Lokalfürsten, sowohl islamische Führer als auch laizistische. Auch die mittlere Bourgeoisie war Teil des Kemalismus. Aber die Avantgarde war die Grossbourgeoisie und die Grossgrundbesitzer. Während des Krieges machten sie ein Abkommen mit den Imperialisten, deshalb überliessen diese ihnen Istanbul. Wieso hätten sie ohne dieses Abkommen Istanbul den Kemalisten überlassen? Im Gegenzug erhielten sie während 50 Jahren die Rechte auf die Rohstoffe. Während der Zeit des Osmanischen Reiches mussten die westlichen Firmen Steuern auf die geförderten Rohstoffe zahlen, das fiel jetzt weg. Es gab auch keine Hafengebühren mehr. Wegen diesem Abkommen stoppten die imperialistischen Länder den Krieg und überliessen die Macht Mustafa Kemal. Dieser beschnitt die Rechte der Arbeiter_innenklasse, zum Beispiel wurden freie Gewerkschaften verboten, es gab nur die faschistischen kemalistischen Gewerkschaften. Weil Lenin 1920 Kemal Waffen und Geld lieferte, wahrscheinlich, weil er dachte, dieser würde gegen den Imperialismus kämpfen, gab es während einiger Zeit eine kommunistische Partei. Anfang 1920er wurden aber die Anführer alle umgebracht und die kommunistische Partei verboten, viele Mitglieder getötet oder gefoltert.
Auch mit den Kurd_innen gingen sie so vor: Zuerst hatten sie ein Abkommen mit ihnen, danach wurden sie bekämpft. In Adana gab es zum Beispiel einen Protest für höhere Löhne. Die Protestierenden wurden zu 10 oder 15 Jahre Haft verurteilt, weil sie gegen die Regierung seien. Sie griffen andere Völker an und versuchten, diese auszulöschen. Weil die Türkei von Anfang an die Arbeiter_innenbewegung und die anderen Völker unterdrückte, kann sie als faschistisch bezeichnet werden. Dazu kommen die Genozide an den Armenier_innen, den Griech_innen usw. Mustafa Kemal kommt von der Partei, die den Genozid an den Armenier_innen organisierte. Der zweite Mann nach Kemal in der Partei hatte sogar einen Schnauz wie Hitler.
Der Staat besteuerte die normalen Menschen, aber die Grossgrundbesitzer mussten keine Steuern bezahlen.

Aber es gab ja in der Geschichte der Türkei schon Momente, wo es demokratischer zu und her ging. Ist das dann einfach weniger faschistisch?

Wichtig ist, wie sie sich dem Volk gegenüber verhalten, der Arbeiter_innenklasse gegenüber. Sie liessen die Menschen nicht ihre Sprache sprechen, ihre Traditionen pflegen. Die Arbeiter_innen wurden sehr schlecht behandelt. Sie wurden für kleinste «Vergehen» von den Bossen schwer bestraft und die Regierung war damit einverstanden. Deshalb sage ich, das ist ein faschistischer Staat. Aber manchmal setzten sie eine demokratische Maske auf, die sie wieder ablegten, wenn sie sahen, dass die Volksbewegung zu stark wurde, um diese wieder zu stoppen und zeigten ihr wahres Gesicht. Der türkische Staat hatte immer einen faschistischen Charakter, auch wenn sie manchmal ein anderes Gesicht zeigten. Als Erdogan an die Macht kam, dachten alle, er würde die Türkei retten, dass das gut für die Arbeiter_innen sein würde, aber dann zeigte er sein wahres Gesicht. Das war immer wieder so.

Zum zweiten Teil des Interviews.

Die Macht von Diktatoren oder Quasidiktatoren ist meist instabil. Um an der Macht zu bleiben, greifen sie oder sie unterstützende faschistische Kräfte immer wieder auf Attentate zurück. Diese schüren Angst in der Bevölkerung. Als Reaktion darauf kann der Staat mit harter Hand durchgreifen und demokratische Rechte weiter abbauen. Beim Putschversuch von 2016 in der Türkei ist unklar, wer die Hände im Spiel hatte, profitieren konnte Erdogan aber allemal. Er bezeichnete den Putschversuch denn auch als «Geschenk Gottes». Kurz vor Redaktionsschluss dieser Zeitung explodierte in einer sehr belebten Strasse Istanbuls eine Bombe. Ob es sich um eine «false flag operation» handelt, bei der der türkische Staat selber eine Bombe platziert um das Attentat seinen Gegner_ innen zu unterstellen, ist noch unklar, wenn auch durchaus möglich. Jedenfalls versuchte Erdogan, die Schuld sofort der PKK zuzuschieben, obwohl diese nicht Zivilist_innen angreift.

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